Nikos Anastasiadis, Präsident der griechischen Zyprioten, und Mustafa Akinci, Oberhaupt der türkischen Zyprioten, kommen nicht auf einen Nenner. Die Grenzen bleiben, die Wiedervereinigung Zyperns ist vorerst vom Tisch. Ein Besuch im letzten geteilten Staat Europas.
Der Witz über die Uhr ist noch frisch, die jungen Zyprioten machen sich gerne darüber lustig: Sie verwenden die Zeitdifferenz zwischen Nord- und Südzypern als Ausrede, wenn sie bei Verabredungen zu spät oder zu früh kommen. Das Ganze ist auch absurd. Seitdem der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in der Türkei auf die Winterzeit verzichtet, gehen in Nordzypern die Uhren anders als im Süden, wo weiterhin die Winterzeit gilt. Das trennt die Insulaner weit mehr als die Grenzen. Die sind seit dem EU-Beitritt Zyperns im Jahr 2004 relativ offen. Seitdem ist es für die Bewohner leichter, die innerstaatliche Pufferzone zu überqueren und nach Passkontrollen auch den anderen Teil des Landes zu besuchen. Einige tun dies täglich oder wöchentlich, andere wohnen in Nikosia und haben noch kein einziges Mal den seit 1963 abgetrennten Teil ihrer Stadt gesehen. Eine Stadtkarte, die von jungen griechischen Zyprioten erstellt wurde, lässt den Norden der Stadt schlichtweg frei keine Straßennamen, keine Tourismustipps, nichts.
Passiert der neugierige Besucher die Pufferzone, bewacht von UN-Soldaten, so ändert sich das Straßenbild zwar nur geringfügig, aber trotzdem ist alles anders: Im Norden spricht man Türkisch statt Griechisch, man verwendet türkische Lira statt dem Euro und vernimmt Muezzin-Rufe statt Glockenläuten.
Türken, Griechen? Nein, Zyprioten
Und dennoch blickt man genau hin, dann erkennt man Gemeinsamkeiten unter den Bewohnern der Stadt. Und spricht man mit Politikern, Aktivisten, vor allem aber auch Studenten, dann wird schnell deutlich: "Die im Norden", das sind keine Türken, genauso wenig wie "die im Süden" Griechen sind. "Zyprioten" haben ihre ganz eigene Identität, sie teilen Esskultur genauso wie musikalische Traditionen und bestimmte Verhaltensweisen, wie die "zypriotische Stunde Verspätung". Die Teilung des Landes, sie ist zwar präsent und fühlbar, bleibt jedoch ein Konstrukt. Das entstand nach dem Ende der britischen Kolonialherrschaft.
Bereits unter den Briten war der Konflikt zwischen den beiden Volksgruppen angelegt worden, kurz nach der Unabhängigkeit kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen und griechischen Zyprioten. Letztere forderten eine Annäherung an Griechenland, während die türkischen Zyprioten um ihren Status bangten. 1963 wurde die Hauptstadt Nikosia im Zuge gewaltsamer Auseinandersetzungen geteilt: Ein UN-Offizier zog damals auf einer Stadtkarte mit einem grünen Stift eine Linie durch die Stadt. Mit der "green line" entstand die heutige UN-Pufferzone.
1974 kam es zu einem Staatsstreich gegen die rechtmäßige zypriotische Regierung, um den Anschluss an Griechenland gewaltsam herbeizuführen. Die Türkei reagierte als Schutzmacht des Nordens und besetzt den Norden des Landes bis heute. Seit 2004 ist die gesamte Insel Mitglied der EU, der Norden jedoch de facto eine selbstverwaltete Teilrepublik, anerkannt einzig und allein von der Türkei. Die Geschehnisse des Jahres 1974 nennen manche Invasion, andere Intervention.
Zwischen den beiden Welten liegt die UN-Pufferzone, bewacht von einer über 1.000 Mann starken Peacekeeping-Mission. Die Zone ist etwa 180 Kilometer lang und an manchen Stellen bis zu sieben Kilometer breit. In Nikosia umfasst sie manchmal nur einen Straßenzug. An anderer Stelle befindet sich ein ganzer Flughafen mit umliegendem Gelände in der Zone. Noch heute zeugen das alte Flughafengebäude mit den abblätternden Buchstaben auf dem Dach und ein rostiges Flugzeug der Cyprus Airlines von der Hast, mit der vor Jahrzehnten die Entscheidung über die Teilung der Insel getroffen wurde. Staubige, zerfressene Flughafensessel und eine alte Cafeteria warten heute noch auf Reisende. Stattdessen patrouillieren hier UN-Soldaten und staunende Besuchergruppen.
In Nikosia sehen manche Straßenabschnitte innerhalb der Pufferzone mit ihren verlassenen Geschäften und Cafés nahezu apokalyptisch aus. Die Bewohner und Ladenbesitzer mussten ihre Habseligkeiten in Windeseile zusammenpacken. Die Häuser gehören ihnen oft bis heute, das einst geschäftige Leben steht aber still. Hier hängt das Schild eines verlassenen Reisebüros, dort vergilben alte Werbeplakate, in einem Autohaus wartet ein verstaubter Toyota auf seine erste Ausfahrt. "Kommen Sie, riechen Sie die Ledersitze!", sagt der UN-Soldat bei einer Führung mit einem Grinsen und macht die Autotür auf. Der Wagen ist neu und doch schon ein Oldtimer.
Diese Vergangenheit endlich hinter sich lassen, das wollen nicht nur ein paar ambitionierte Politiker oder Organisationen aus dem Westen, das wollen auch viele Jugendliche und Studenten. 2004, als die Pufferzone leichter passierbar wurde, waren sie noch Kinder. Einen abgeriegelten Nordteil kennen sie kaum mehr. In der privaten University of Nicosia, im Südteil der Insel, studieren türkische und griechische Zyprioten gemeinsam und verständigen sich auf Englisch. In einer Diskussion unter Studenten kommt schnell die Frage auf, ob es denn überhaupt noch nötig sei, bei einer Vorstellung hinzuzufügen, dass man aus Nord- oder Südzypern kommt. Die Kultur sei doch so ähnlich, Jugendliche im Norden würden ihre Freitagabende vermutlich genauso verbringen wie Jugendliche aus dem Süden. Mit der Zeitverschiebung können sie die Partynacht jenseits der Pufferzone sogar geschickt noch länger machen.
Andere geben jedoch zu bedenken: "Man kann eben nicht so schnell alles ausradieren, was einem in der Grund- und Oberschule über die andere Seite beigebracht wurde." Es brauche immer noch Mut, sich zu einem geeinten Zypern zu bekennen. Besonders die griechischen Zyprioten berichten, dass man schnell in seiner Nachbarschaft schräg angesehen wird, wenn man zu viel Sympathie für die anderen Teile der Bevölkerung zeigt. Es passieren noch heute viel mehr türkische Zyprioten die grüne Linie gen Süden als andersrum. Viele griechische Zyprioten fürchten, durch das Passieren die Republik im Norden stillschweigend anzuerkennen.
Erdogan als gemeinsamer Gegner
Bei der regen Diskussion an der University of Nicosia offenbart sich aber noch etwas ganz anderes: Die Studenten im Raum haben einen gemeinsamen Gegner die Türkei. Bei den Griechen verwundert das nicht. Doch selbst die Bewohner des Nordens stehen ihrer Schutzmacht skeptisch gegenüber. "Wir wollen uns frei fühlen ohne die Türkei", bringt eine Nordzypriotin die Stimmung auf den Punkt. Besorgt schauen viele von ihnen auf die Türkei, beobachten die aktuellen Entwicklungen unter Präsident Erdogan. Religion ist hier auf der Insel längst nicht so wichtig wie in der Türkei. Dennoch bleibt es ihr Land. Zum Todestag des türkischen Staatsgründers Atatürk hängen auch im Nordteil alle Fahnen auf Halbmast, die Sirenen erklingen um fünf nach neun türkischer Zeit dem Zeitpunkt des Todes Atatürks.
Auch wenn sich Nord- und Südzyprioten nähergekommen sind, beide trennen noch tiefe Gräben. Das wissen auch die Mitarbeiter des Ausschusses für die Vermissten in Zypern. Bereits 1981 wurde der Ausschuss gegründet, 1997 hatten sich beide Konfliktparteien unter Aufsicht der UN erst auf eine anerkannte Liste von etwa 2.000 vermissten Personen geeinigt, sechs Jahre hat es dann noch gedauert, bis mit der Suche begonnen werden konnte. "Wenn Menschen verschwinden, dann ist das ein politischer Akt", erklärt ein Teammitglied bei einer Führung durch das Zentrum des Ausschusses, irgendwo im Nirgendwo der Pufferzone. In einem Labor sitzen junge zypriotische Wissenschaftler und legen die Knochen von Menschen zusammen, die irgendwann in diesem Konflikt einmal Opfer waren oder Mörder oder einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie verschwanden spurlos, und erst jetzt wird nach ihnen gesucht. Der Anblick der bräunlichen Knochen auf medizinisch weißen Tischen beklemmt, neben manchen Schädeln liegt noch eine Uhr oder eine Münze, die mit den Toten gefunden wurde. Das Skelett eines Kleinkindes kam mit Strampler und Schnuller in das Zentrum. Manche Angehörige finden Frieden, wenn sie nach Jahren des Wartens einen Knochen des Liebsten begraben können. Andere können nicht aufhören, nach den Tätern zu fragen. Eine Frage, auf die der Ausschuss keine Antwort geben darf. Es sind genau diese seelischen Wunden und die Frage nach den Tätern, die wesentlich langsamer verschwinden, als eine politische Einigung erzielt werden kann.
Eine solche Einigung ist vielleicht doch gar nicht mehr so weit weg. Die Präsidenten der beiden Inselhälften konnten sich in der Schweiz zwar nicht auf eine Wiedervereinigung verständigen, doch die Verhandlungen sollen im Januar weitergehen. Es wird wieder um Gebietsansprüche, den Abzug des türkischen Militärs und politische Teilhabe im geeinten Zypern gehen. Vielleicht wird dann doch in Nordzypern an der Uhr gedreht. Es wird Zeit.
Von Konstanze Nastarowitz