Im tschechischen Isergebirge fühlen sich Skiläufer und Spaziergänger zurückversetzt in die 50er-Jahre des vorigen Jahrhunderts und haben endlich Zeit, die persönliche Reset-Taste zu drücken.
Sssch, sssch, sssch... gleichmäßig surren die Skier in der Loipe. Es ist das einzige Geräusch im Wald. Alles andere schluckt der Schnee. Er türmt sich auf den Fichten, dass die Äste sich biegen. Selbst der Wind ist wie ein sanftes Kätzchen, das nur mal kurz auf einer Lichtung vorbeischnurrt. Der Himmel gähnt farblos über den Bäumen. Es gibt nichts, woran sich das Auge festhalten muss. Gestern schien noch die Sonne. An diesem Tag ist alles grau oder weiß so als wäre über Nacht die Farbe aus der Landschaft gelaufen. Sssch, Sssch, Sssch. Zeit, die Gedanken zu sortieren und dabei den Alltagsballast an die nächste Fichte zu hängen. Einige Tagträume später quillt Nebel aus den umliegenden Mooren hoch und beflügelt die Fantasie: Wird an der nächsten Kurve womöglich Dr. Kittel mit wehendem Mantel aus dem Wald herausreiten? Der Bergdoktor behandelte im 18. Jahrhundert die Kranken mit Heilkräutern und zog dabei seine Rezepte aus Hexen- und Zauberbüchern, was ihm die Spitznamen "Zauberer von Schumburg" und "Faust des Isergebirges" einbrachte.
Einfache Unterkünfte in Familienpensionen
Während das Riesengebirge in Tschechien mit Rübezahl und Abfahrtski lockt, steht das westlich benachbarte Isergebirge für Dr. Kittel und Skilanglauf. Auf 800 bis 1.100 Metern Höhe führen 180 Kilometer Loipen hügelauf- und -ab bis nach Polen hinein. Mal geht es auf engen Spuren durch den Wald, dann wieder auf breiten Schneisen mit einem Mittelstreifen für Skatingfans. Der höchste Berg auf tschechischer Seite ist die Tafelfichte mit 1.124 Metern über dem Meeresspiegel.
Guter Ausgangspunkt für Skitouren ist das beschauliche Dorf Bedrichov (Friedrichswald). Dort gibt es einen Skilift und einen Krämerladen. Familienpensionen bieten einfache Unterkünfte an. Im Ort leuchten Fassaden in eddinggelb und babyrosa, als wollten die Einwohner mit dem Anstrich ihrer Häuser dem Winterweiß trotzen.
Doch mehr als die Häuser, geben Menschen wie Jirí Groh dem Landstrich Farbe. Der gemütliche Typ mit Bürstenschnauzer und Handwerkerhänden ist Loipenmacher. Meist rattert er früh morgens durch den Tiefschnee, damit er die Skiläufer nicht behindert. Mit den Schaufeln der neuen Loipenmaschine kann er mit kaum mehr als einem Knopfdruck sogar umgekippte Bäume vom Weg schieben. "Toll ist es, wenn bei Neuschnee die Sonne über dem Kamm aufgeht. Das ist dann die Belohnung für andere Nächte voller Nebel", sagt Jirí. Diesen Morgen hat er etwas Rotes im Schnee entdeckt: eine Blutspur. "Ein Fuchs, der ein Perlhuhn gerissen hat", vermutet er. Normalerweise findet er höchstens leere Energie-Gel-Fläschchen in der Loipe, die vom letzten Isergebirgslauf stammen und von freiwilligen Helfern eingesammelt werden. Der 50-Kilometer-Skimarathon wurde 1968 von einer Gruppe einheimischer Bergsteiger begründet, die zum Skilaufen auf die Kämme des Isergebirges hinausrückte. Als sie zwei Jahre später auf einer Expedition in Peru bei einem Erdbeben ums Leben kamen, veranstalteten Freunde das Skirennen als Gedenkmarathon. Im Laufe der Jahre ist es zu einer Sportveranstaltung für jedermann mit über 4.000 Teilnehmern gewachsen und weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Zum 50. Jubiläum im Februar 2017 werden in Bedrichov wieder Tausende Besucher erwartet.
An diesem Tag flitzen nur ein paar Skater und ein Langläufer mit seinem Terrier auf der Überholspur vorbei. Inzwischen schneit es, als wolle Petrus noch die letzten Flecken in der Landschaft weißeln. An einer Loipenkreuzung hat sich eine Handvoll Skiläufer vor einer Baude gesammelt. Solch ehemalige Schutzhütten für Schafhirten werden heute als Kiosk oder Restaurant betrieben. Vor der Schieferdachhütte hat Inhaber Zdenk Müller den Schnee von den Stehtischen gefegt. Dort löffeln die Gäste nun dampfende Krautsuppe.
Loipenmacher Jirí kommt oft in der Pause vorbei und trinkt einen Tee mit Zitrone, aufgebrüht mit Gewürzen nach Müllers Geheimrezept. Drinnen zeigt der schlanke Wirt der auch als Helfer für die Bergwacht tätig ist auf ein paar Holzski aus dem vorigen Jahrhundert, die an den Deckenbalken hängen: "Die habe ich mal ausprobiert, gar nicht einfach. Damals musste man schon echter Könner sein." Schon dreimal hat er am Isergebirgslauf teilgenommen. Oft schnappt er sich am Abend noch Skier und Stirnlampe und läuft nach der Arbeit eine Runde im Dunkeln.
Ebenso wie die Bauden sind die vielen Aussichtstürme Markenzeichen der Region. Einst konnte man von oben bis auf die Gipfel der Nachbarhügel schauen. Eifrige Turmbesteiger verewigten die Anzahl ihrer Besuche in "Gipfelbüchern", die in den Gaststätten auslagen. Inzwischen sind die Nadelbäume richtig hochgewachsen und die Sicht nicht mehr ganz so weit. Der höchste Turm und das Wahrzeichen der Region ist der auf einem 1.012 Meter hohen Berg stehende "Jeschken". Er hat die Form einer Saugglocke und beherbergt ein Hotel.
Hier wurden Szenen der Komödie "Schwere Jungs" gedreht
Bei den Einwohnern des Städtchens Liberec (Reichenberg) ist er so beliebt, dass Wohnungen teurer sind, je besser man den Jeschken vom Fenster aus sehen kann. Vom Nickelturm fällt der Blick auf die Stadt Jablonec (Gablonz). Sie ist das Zentrum der böhmischen Glasindustrie und Heimatort des Schmuckimperium-Gründers Swarovski. Trotz glitzernder Schmuckgeschäfte blättert an manchen Häusern der Putz. Einige Straßen haben den architektonischen Charme der 50er-Jahre bewahrt. Neben der Schneesicherheit war das einer der Gründe, hier einige Szenen aus der Bobfahrer-Komödie "Schwere Jungs" von Marcus H. Rosenmüller zu drehen, die eigentlich in Oslo spielt.
Nach einer ausgedehnten Skitour an der frischen Luft ist der Kopf wieder frei. Ein Saunabad am Abend entspannt die müden Muskeln. Danach besänftigen Knödel und Schweinebraten den Magen und mit Dr. Kittels Schlaftrunk geht es schnell ins Reich der Träume.
In der "Maulwurf-Geburtsklinik"
Am nächsten Tag schneit es erneut. Eine trockene Alternative ist der Besuch der Spielzeugfabrik in Albrechtsdorf. Dort gibt Doris ramlová dem Wald seine Farbe zurück. An ihrem Arbeitsplatz riecht es nach Sägespänen und Lösungsmitteln. Vor ihr auf dem Tisch steht "Krtek", der berühmteste aller Maulwürfe, bekannt als "Pauli" aus der "Sendung mit der Maus". Die freundliche Tschechin nimmt ihn in die Hand und tupft mit einem Pinsel einen roten Klecks auf seine Nase. "Man muss eine ruhige Hand haben", sagt sie. Den ganzen Tag lang bemalt sie Holzfiguren in der Werkstatt mit dem Türschild "Maulwurfgeburtsklinik".
Das traditionsreiche Unternehmen fertigt seit 1920 Holzspielzeug und erledigt dabei alle Arbeitsgänge von der Bearbeitung des Rundholzes bis zum Vertrieb selbst. Man kann ein kleines Museum und auch die Produktion besichtigen. Hier begann auch der Drückhund seine Karriere. Auf Fäden gezogen bewegt er sich, wenn man von unten gegen sein Podest drückt. Er erinnert an die eigene Kindheit, genauso wie die Hütchen vom Spiel "Mensch ärgere dich nicht" oder der erste "Taschenrechner" mit aufgereihten Holzkugeln, den man damals unter dem Weihnachtsbaum fand. Hier leuchtet alles herrlich bunt. So bunt, dass man sich bald wieder nach draußen sehnt in die erholsame schwarz-weiße Winterlandschaft.
Von Monika Hippe
Info:
Allgemein:
Tschechische Zentrale für Tourismus - CzechTourism, Wilhelmstraße 44, 10 117 Berlin, Telefon 030 2044770, berlin@czechtourism.com, www.czechtourism.com
Der 50. Isergebirgslauf findet diesmal vom 17. bis 19. Februar statt. Anmeldungen unter www.jiz50.de.
Anreise:
Per Flug zum Beispiel mit Eurowings, one way, Stuttgart Dresden, ab etwa 40 Euro pro Person.
Weiter mit dem Zug nach Liberec, weiter mit dem Bus. Fahrpläne (auch auf Deutsch) unter www.idos.cz.
Mit dem Auto: aus Norddeutschland über Dresden A4 Batzen Liberec.
Aus Süddeutschland über die A6 D5 Pilsen Prag Liberec. Mietwagen zum Beispiel über www.holidayautos.de ab etwa 200 Euro pro Woche.
Wohnen:
Es gibt zum Beispiel in der Pension Uko in Bedrichov günstige, sehr saubere Zimmer. Obendrein hat die Pension eine Bowlingbahn und eine Sauna. Doppelzimmer ab 18 Euro pro Person, www.uko.cz.
Luxuriöser wohnt man im Viersternehotel Goldener Löwe in Liberec. Kaiser Franz Joseph hat das Hotel 1906 eingeweiht und auch darin gewohnt, www.clariongrandhotelzlatylev.com.
Essen & Trinken:
Im ehemaligen Jagdschloss Nová Louka direkt an der Loipe gelegen gibt es tschechische Spezialitäten wie Rauchfleisch mit Kartoffelknödeln und Kraut (Großmutteressen) für wenige Euro.
Das etwas teurere Restaurant U Smutnych in Bedrichov hat eine hervorragende Küche. Sehr lecker ist der Alttschechische Rostbraten mit warmen Gemüse; www.usmutnych.cz.
Ausflugstipp:
In der Spielzeugfabrik Detoa erfährt man alles über die historische Herstellung von Holzspielzeug. Mit angegliedertem kleinen Museum, www.detoa.cz.
Die Reise wurde unterstützt von der tschechischen Zentrale für Tourismus.