Feurige Stiere und stolze Pferde: Das sind die Tiere, die man mit der Camargue im Süden Frankreichs in Verbindung bringt. Die einzigartige Landschaft bietet ein unvergessliches Naturerlebnis.
Ausgerechnet die heißeste Zeit des Tages haben wir uns für eine Radtour entlang des Rhône-Kanals ausgesucht. Es ist früher Nachmittag, und die Sonne brennt auf das blaugrün schimmernde Wasser, die kleine Steinbrücke und den staubigen Uferweg herab. Einige Boote, deren Besitzer unter Sonnensegeln in der Hitze dösen, sind hier vertäut. Ein paar Enten dümpeln vorbei und verziehen sich rasch ins hohe Schilf des gegenüberliegenden Ufers.
Wir sind in Gallician, einem kleinen Örtchen im Norden der Camargue, dessen unstrittiges Zentrum das "Café du Pont" direkt am kleinen Hafen ist. Wer hier anlegt auf der Fahrt von Saint-Gilles Richtung Mittelmeer, der kommt in das kleine Lokal, um einen Kaffee oder Aperitif zu nehmen. Oder um einen der mit knusprigen Baguettescheiben und Tapenade garnierten Salate zu essen eine der Spezialitäten des Hauses. Damit gestärkt, geht es für uns jetzt aufs Fahrrad eine gemütliche Tour soll es werden, verspricht mir meine Begleiterin Valérie. Sie erzählt von der Geschichte des Canals du Rhône, dessen Bau auf das 18. Jahrhundert zurückgeht. "Ursprünglich ging es darum, einen Teil der Camargue trockenzulegen und eine Verbindung zwischen dem landeinwärts gelegenen Saint-Gilles und dem Mittelmeer zu schaffen", sagt die Südfranzösin. Heutzutage sind auf dem knapp 100 Kilometer langen Kanal, der in den Étang de Thau mündet, überwiegend Hausboote unterwegs und an seinem Ufer zunehmend Radtouristen.
Der Canal du Rhône ist knapp 100 Kilometer lang
Entlang des Kanals nämlich verläuft hier eine sogenannte Voie Verte, wie die Franzosen Wege bezeichnen, die Radfahrern und Fußgängern vorbehalten sind. Der Streckenabschnitt gehört zur sogenannten Via Rhôna, einem noch teilweise in der Planung befindlichen Fernradweg vom Genfer See bis zum Mittelmeer mit einer Gesamtlänge von 815 Kilometern. Aber auch eine kurze Etappe lohnt sich.
Der Weg zwischen Gallician und Sète etwa ist nahezu eben, auch bei hochsommerlicher Hitze mühelos zu bewältigen. Links der Kanal, rechts die typische Landschaft der Camargue hohes Gras, feuchte, fast sumpfartige Wiesen, ein paar Teiche, niedrige Bäume, die ein wenig Schatten spenden. Ein ganz leichter Wind lässt das Schilf am Ufer rascheln, die Zikaden scheinen sich an Lautstärke gegenseitig überbieten zu wollen. Auf einer Weide hinter einer kleinen Baumgruppe sind ein paar der typischen weißen Camarguepferde zu sehen und in der Ferne eine Herde schwarzer Stiere. An einer Brücke biegen wir vom ausgewiesenen Radweg ab, fahren über kurvige Landstraßen zurück zu unserem Ausgangsort und machen uns auf zu unserer nächsten Station, dem Centre du Scamandre.
Dabei handelt es sich um eine "Réserve naturelle", ein 146 Hektar großes Schutzgebiet mit Teichen, Sümpfen und Salzwiesen, mit Röhricht, windzerzausten Büschen und niedrigen Bäumen und mit vielen Arten, die hier ein Rückzugsgebiet haben. Von fotogenen Flamingos über Reiher, Enten und Singvögel bis zu Sumpfschildkröten und Schlangen gibt es hier viele Tiere. Einige von ihnen bekommt man auf einem Rundweg im für Besucher zugänglichen Teil des Geländes mit etwas Glück zu sehen. Im Besucherzentrum selbst treffen wir Serge, der heute mehrere Schulklassen aus der Region betreut. Die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sei eine der wichtigsten Aufgaben des Centre de Scamandre, sagt Serge. Und dabei geht es nicht nur darum, Wissen über und Verständnis für die so sensible Landschaft Camargue, ihre Flora und Fauna zu vermitteln, sondern auch das Bewusstsein für das eigene kulturelle Erbe zu wecken. Dabei deutet Serge auf einen Lastwagen, der heute zwei noch junge schwarze Stiere nach Scamandre gebracht hat. Ein Züchter aus der Umgebung habe die Tiere für diesen Nachmittag ausgeliehen, und mehrere junge Männer zeigen den Kindern wie eine "Course Camarguaise" funktioniert.
Typische Camarguepferde
Dabei geht es um die südfranzösische Art des Stierkampfs, die unblutig ist und eher ein Kräftemessen zwischen Stier und dem sogenannten Raseteur. Der nämlich muss versuchen, sich dem Tier von der Seite zu nähern, sodass er eine zwischen den Hörnern angebrachte Kokarde herunterziehen kann.
Gelingt das nicht, dann muss der Raseteur so schnell wie möglich die Umrandung der Arena erreichen, um sich dort in Sicherheit zu bringen. Ausdauer, Schnelligkeit und Wendigkeit gehören also dazu, wenn man eine "Course Camarguaise" ohne Knuffe und blaue Flecken überstehen will. Auch wenn die Leihstiere noch jung, die Hörner kurz und abgerundet sind, geht das Publikum begeistert mit, wenn sich einer der Raseteure in die Nähe der Tiere wagt. Ziemlich aufregend, nicht nur für die jungen Zuschauer sondern auch für die zwei-und vierbeinigen Akteure.
Von Scamandre geht es in nordwestlicher Richtung nach Saint-Gilles, auf einer schmalen Straße, die stellenweise fast zwischen meterhohen Wänden aus Schilf hindurchzuführen scheint. Keine halbe Stunde dauert die Fahrt, bis wir das sogenannte Tor zur Camargue erreicht haben. Das 14.000-Einwohner-Städtchen war im Mittelalter einer der wichtigsten Pilgerorte in Westeuropa wegen des Einsiedlers Saint-Gilles, der hier im siebten Jahrhundert ein erstes Kloster gegründet haben soll.
Die Spindeltreppe: ein Meisterwerk aus dem Mittelalter
Heute ist das etwas verschlafen wirkende Städtchen stolz darauf, dass die imposante Abteikirche, deren 900-jährige Geschichte in diesem Jahr gefeiert wird, zum Unesco-Weltkulturerbe zählt. Beeindruckend ist die Fassade des im zwölften Jahrhundert begonnenen Bauwerks. Eine breite Freitreppe führt hinauf zu den drei Portalen, die von aufwendigen Steinmetzarbeiten umgeben sind. Nicht nur die Lebensgeschichte Christi ist von den Künstlern des Mittelalters da in Stein gehauen worden, sondern auch zahlreiche Szenen aus dem Alten Testament. Es lohnt sich, diese vielen Details auf sich wirken zu lassen, ebenso wie ein Besuch der Kirche selbst. Hier sollte man einen Blick auf die sogenannte Spindeltreppe werfen, die als Meisterwerk mittelalterlicher Baukunst gilt. Umrundet man den Kirchenbau von außen, dann sieht man noch einen erhaltenen Teil des Treppenhauses, doch vieles rundherum ist deutlich restaurierungsbedürftig. Valerie Parayre, die für das Tourismusbüro arbeitet, seufzt ein wenig. Ja, es gebe bei der Restaurierung der Altstadt rund um die Abteikirche noch so einiges zu tun, und die Stadt plane umfangreiche Arbeiten. Die so lange leerstehende Markthalle aus dem 19. Jahrhundert soll zum Kulturzentrum umgebaut, Marktplatz und Boulevard neu gestaltet werden. Man hoffe, so noch mehr Touristen anzulocken.
Über zu wenige Gäste kann sich Jean-Claude Groul hingegen auf seiner Manade St. Louis (ein Tierzuchtbetrieb) nicht beklagen. Gerade ist ein Bus mit einer Gruppe Senioren den Weg zum weiß getünchten Wohnhaus mit den blaugrün gestrichenen Fensterläden entlanggefahren. Und Stierzüchter Jean-Claude Groul lotst seine Besucher ein paar Stufen hinauf auf den Hänger eines Traktors. Mit dem geht es jetzt auf eine Tour über das Gelände der Manade. Groul schwingt sich auf sein weißes Pferd und treibt zusammen mit ein paar Helfern eine Herde junger Stiere an den Traktorhänger. Er erzählt dabei, worauf es bei der Stierzucht ankommt und wie stolz er auf seine Tiere sei. Nach einer guten Stunde ist die Vorführung beendet, die Gäste sind weitergefahren. Und Groul kann kurz im Schatten eine Pause einlegen. Gerade im Sommer, sagt er, habe er fast täglich Gruppen auf seinem Hof. Das sei anstrengend, klar. Das sei aber die einzige Möglichkeit, die Traditionen der Region zu leben und sie weiterzugeben an die nächste Generation.
Von Sabine Loeprick
Info:
Anreise
Nach Montpellier zum Beispiel mit Air France über Paris.
Empfehlenswertes eine Auswahl:
Die Städtchen Aigues-Mortes und Saint-Gilles.
Centre du Scamandre: Besucherzentrum im Naturschutzgebiet.
Eine Bootstour auf dem oder aber auch eine Fahrradtour an dem Canal du Rhône.