Schwerin wurde 1990 zur Hauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern. Doch schon seit Jahrhunderten bestimmen die jeweils Regierenden über das Wohl der Stadt: Im Mittelalter bewahrte Heinrich der Löwe den schönen Sieben-Seen-Landfleck vor der Bedeutungslosigkeit, im ausgehenden Barock Herzog Friedrich Franz II. und nach der deutschen Einheit die Landesregierung.
Schwerin hat offensichtlich doch noch zu sich selbst gefunden, ist über 25 Jahre nach dem Mauerfall und der Einheit sozusagen zu einer selbstbewussten Persönlichkeit geworden. Kam man etwa im Jahr 2000 auf dem damals noch mehr als baufälligen Hauptbahnhof an, dann plärrte einen umgehend die Lautsprecherstimme an: "Hier Landeshauptstadt, hier Landeshauptstadt, ihre weiteren Verbindungen...". Dabei klang die Stimme so, als wollte sie selbst das mit der Landeshauptstadt gar nicht so recht glauben.
Zehn Jahre zuvor, am 26. Oktober 1990 gut drei Wochen nach der Feier der deutschen Einheit vor dem nicht minder baufälligen Reichstagsgebäude in Berlin beschloss der Landtag, "dass Schwerin die Landeshauptstadt ist". Obendrein wurde der Sitz des Landtags im Schweriner Schloss in der Landesverfassung festgeschrieben, deutschlandweit ein einmaliger Vorgang, sagt Mecklenburg Vorpommerns SPD-Ministerpräsident Erwin Sellering im Gespräch gegenüber FORUM. Offenbar wollten damals die Parlamentarier von CDU, SPD, FDP und PDS auf Nummer sicher gehen, dass Stadt und Schloss eine richtige Aufgabe haben. "Aus heutiger Sicht war das für das Schloss die einzig vernünftige Lösung", bestätigt auch Lorenz Caffier, Chef der Landes-CDU und Innenminister in Mecklenburg-Vorpommern. "Denn so ein Schloss ist auf Dauer eher ein Millionengrab, als dass es seinem Besitzer richtig Freude bringt."
Landesparlament im Renaissanceschloss
Der prachtvolle Bau steht auf einer kleinen Insel im Schweriner See, die über eine Brücke mit dem Festland verbunden ist. Diese Insel ist das ursprüngliche Siedlungsgebiet, auf ihr ließen sich bereits etwa 600 vor Christus Fischer nieder. Im Jahr 1160 kam dann richtig Schwung in die Geschichte des Ortes: Herzog Heinrich der Löwe aus dem Haus der Welfen in Braunschweig verlieh Schwerin die Stadtrechte. Vielleicht auch ein wenig aus Frust, denn gegenüber dem deutschen Staufer-Kaiser Friedrich Barbarossa hatte er wenig zu melden. Dabei war sein sehnlichster Wunsch, in die Geschichte einzugehen. Seine erste Stadtgründung zu München war als Voralpen-Brückenkopf zum Papst in Rom spektakulär. Mit den Pilgern ließ sich auch richtig Geld verdienen. Auch die Grundsteinlegung des Löwen für Lübeck an der Trave mit seinem Zugang zur Ostsee ergab Sinn. Nur Schwerin an den sieben Seen, zwischen den sieben Wäldern, hatte eigentlich keine wirkliche Aufgabe. Immerhin ist die Ostsee gut 50 Kilometer entfernt. Bis heute kann kein Historiker so richtig sagen, was sich Heinrich der Löwe mit den Stadtrechten für Schwerin gedacht hat. Die einfachste Erklärung dürfte sein, dass Schwerin als Stützpunkt zur Christianisierung der Vandalen in Ostvorpommern dienen sollte.
Heinrich der Löwe verlieh Stadtrechte
Die relative Bedeutungslosigkeit sollte der Stadt aber auch zum Vorteil gereichen. So konnte sich Schwerin ganz anders als Magdeburg im Dreißigjährigen Krieg ganz gut wegducken, es blieb relativ geruhsam. Bis zum nächsten epochalen Einschnitt: Der kam 1837 mit Herzog Friedrich Franz II. Der hatte von seiner Residenz in Ludwigslust offenbar genug und verfiel der Idee, auf der Insel die bisherige Wallanlage durch ein richtiges Schloss zu ersetzen. Und zwar nicht diese gepflegte Langeweile der Preußenkönige. Mit seinem Renaissance-Wunschschloss war Friedrich Franz ein regelrechter Impulsgeber selbst für die Neuschwanstein-Pläne von Bayerns Märchenkönig Ludwig II.
Das Schweriner Schloss in seiner heutigen Form war gegen 1854 fertiggestellt. Zu dieser Zeit hatte das imposante Gebäude mit der kleinen Stadt drum herum auch schon einen Bahnanschluss. Wobei die Hauptstrecke Berlin-Hamburg 50 Kilometer weiter westlich an Schwerin vorbei geht noch immer ist Schwerin die einzige Landeshauptstadt in Deutschland, die keinen ICE-Anschluss hat. Die Schnellzüge rauschen durch Ludwigslust, die ehemalige Residenzstadt, hindurch. Man kann eben nicht beides haben: ICE und Schloss.
Diverse Ministerpräsidenten des Landes haben sich bei der Bahn immer wieder darum bemüht, aber da ist nichts zu machen. Dafür ist das Gebäude des Hauptbahnhofs noch in weiten Teilen das Original aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Auch das ist wieder dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass Schwerin nicht ganz so bedeutend war: Insgesamt wurde die Stadt im Zweiten Weltkrieg vier Mal von Bomberverbänden angegriffen, aber nicht das Kerngebiet mit seiner Schlossanlage. Damit blieb die Innenstadt von Kriegsschäden halbwegs verschont und die gesamte Altstadt weitestgehend erhalten.
Doch dafür drohte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die realsozialistische Stadtentwicklung. Nachdem bis Ende der 60er-Jahre mehrere Plattenbau-Großsiedlungen im Umland entstanden und die sieben Wälder verschwunden waren, wollte man eigentlich die mittlerweile völlig heruntergekommene Altstadt abreißen und ebenfalls durch Plattenbauten ersetzen. Doch dazu kam es nicht, weil schlicht und ergreifend das Geld fehlte.
Dieser Mangel rettete auch das Schloss. In Ost-Berlin hatten die Genossen schon 1952 gezeigt, wie man mit einem derart imperialistischen Großjunkerbau umzugehen hat: mit viel Sprengstoff. Daran wird es in Schwerin nicht gefehlt haben. Aber was hätte man mit der leergeräumten Schlossinsel machen sollen?
Komplett saniert und rausgeputzt
1990 staunten viele westdeutsche Besucher, welche städtebauliche Perle da am Schweriner See die Zeiten überdauert hatte, inklusive Schloss. Und dann kam es zu dem bereits erwähnten Beschluss des Landtags von Mecklenburg-Vorpommern: Hier ziehen wir ein. "Die einzig vernünftige Lösung", wie die heutige Parlamentspräsidentin Sylvia Bretschneider voller Überzeugung betont. "Wenn wir jetzt bald alle Umbau- und Instandsetzungsarbeiten beendet haben, dann haben wir in den vergangenen 25 Jahren gut 150 Millionen Euro in das Schloss investiert", rechnet sie zusammen. Keine Frage, für eine derartige Aufgabe hätte man keinen privaten Investor gefunden, das kann nur ein Land übernehmen. Die immensen Kosten sind unter anderem auch dem Denkmalschutz geschuldet. Und der kostet nicht nur viel Geld, sondern kann auch sehr ungemütlich sein.
So hat Sylvia Bretschneider zwar ein schönes Büro in einem der vielen Burgtürmchen. Doch dieses Büro geht nach Nordosten da steht im Winter der kalte Ostseewind auf den Fenstern. Und die sind nur einfach verglast, aus Denkmalschutzgründen. "Da bin ich manchmal wirklich froh, wenn Sitzungswoche ist und ich hauptsächlich im Plenarsaal arbeiten darf, denn hier ist es einfach nur kalt", sagt die SPD-Politikerin und lacht. An heißen Sommertagen ist wiederum der Plenarsaal grenzwertig, weil dort aus Denkmalschutzgründen keine Klimaanlage eingebaut werden durfte. "Das wird aber ab September dieses Jahres besser, weil wir da den neuen Saal mit Klimaanlage beziehen", sagt Bretschneider.
"So ein Landesparlament in einem Renaissance-Schlösschen ist aber auch aus ganz anderer Sicht eine Herausforderung", bemerkt Innenminister Lorenz Caffier und muss schmunzeln: "Die ganzen Erker und Türmchen, die verwinkelten Gänge und der große Innenhof sind für unsere Personenschützer nicht ganz einfach zu beherrschen, das ist aus Sicht der Sicherheit ein Alptraum." Trotzdem ist aber auch Caffier überzeugt: "Das Landesparlament im Schloss war ein Segen. Denn wenn anstehende Umbauarbeiten den eigenen Arbeitsplatz betreffen, dann sind die Abgeordneten schon mal schneller bereit, die ein oder andere Million locker zu machen."
Sein CDU-Parteifreund, der Wirtschaftsminister von Mecklenburg Vorpommern, Harry Glawe, sieht gar eine Win-win-Situation für Schwerin: "Die Stadt hat sich in den vergangenen 25 Jahren rausgeputzt, ist eine Perle geworden, und wird nun noch durch das bald komplett renovierte Schloss gekrönt", meint er.
Das hat sich mittlerweile selbst bis zu den Kreuzfahrt-Anlegern im 80 Kilometer entfernten Rostock durchgesprochen. "Die Kreuzfahrt-Touristen werden busseweise von Rostocks Stadtfluss Warnow nach Schwerin gekarrt und im Schweinsgalopp durch die Stadt getrieben", beobachtet Fotograf Ecki Raff die Entwicklung in seiner neuen Heimatstadt. Raff kommt gebürtig aus dem Ruhrpott, hat schon überall in Deutschland gearbeitet. Die Liebe hat ihn vor fast neun Jahren in die Landeshauptstadt verschlagen.
"Am Anfang war das für mich nicht ganz einfach", erzählt er, und nennt als Beispiel das Kneipenverhalten der Schweriner: "In Bochum sitzt einer in der Kneipe allein am Tresen, da kommt ein Fremder rein, setzt sich daneben, und die beiden quatschen wie alte Kumpels. Der Schweriner macht die Kneipentür auf, sieht einem am Tresen sitzen und dreht sich mit der Bemerkung Mann, ist das da voll gleich wieder um." Trotzdem hat die Stadt es ihm angetan.
Immobilienpreise sind stark gestiegen
Als er 2008 herkam, waren die Mieten noch bezahlbar, und wenn man die West-Mecklenburger erst mal für sich gewonnen hat, "wird man die dann auch nicht mehr los". Allerdings hat die Stadt sich in den vergangenen drei, vier Jahren nach seiner Beobachtung auch ganz schön verändert: "Der Immobilien-Boom ist auch hier ordentlich reingeschwappt, die Innenstadtlagen kann man sich gar nicht mehr leisten, das sind Preise wie in Berlin oder Hamburg", erzählt Ecki Raff.
Er hält das für ein typisches Phänomen in der Landeshauptstadt Schwerin, ja, vielleicht im ganzen Landstrich oben an der Küste: Die ersten 100 Jahre passiert gar nichts, aber dann geht plötzlich alles ganz schnell.
Sven Bargel