Edelmetall sollte bei Olympischen Spielen nicht der einzige Gradmesser sein
Die Olympischen Sommerspiele 2016 sind Geschichte. Vor den Spielen beherrschten Kassandrarufe die veröffentlichte Meinung. Die ersten Olympiatage schienen den Pessimisten ob der ausbleibenden deutschen Medaillen Recht zu geben. Am Ende hatten sich die meisten wieder lieb oder doch nicht?
Die Medaillendiskussion wird uns weiter begleiten, insbesondere vor dem Hintergrund der avisierten Strukturreform des deutschen Leistungssports. Wie viele Medaillen braucht Deutschland? Für die DDR war der Medaillenspiegel ein wichtiger Imagefaktor. Im heutigen Deutschland sollte das aber nicht die einzige Währung sein. Persönlichkeit, Haltung, Charisma sind genauso wichtig. Leuchttürme wie das erfolgreiche Beachvolleyball-Duo der Frauen haben Strahlkraft und bleiben in Erinnerung. Aber auch mancher vierte Platz ist nachhaltig und kein Debakel, wie es zuweilen despektierlich zu hören ist.
Es bleibt zu hoffen, dass sich die Reform des deutschen Leistungssports nicht eindimensional an Medaillen orientiert. Damit soll aber keineswegs die Inszenierung der deutschen Marathonzwillinge, die Händchen haltend in Rio auf dem 81. und 82. Platz durchs Ziel marschierten, goutiert werden. Eine solche Zirkusnummer konterkariert jeden leistungssportlichen Gedanken. Wir brauchen sportliche Vorbilder, deren Leistungswillen Respekt einflößt. Aber auch Misserfolge muss man aushalten können.
Gespannt darf man sein, wie der gordische Knoten gelöst werden kann, möglichst viele Sportarten zu fördern oder sich auf erfolgreiche und vielleicht auch kostengünstige Sportarten zu konzentrieren. Unsere Ballsportarten waren in Rio besonders erfolgreich, denn alle Teams gewannen Medaillen. Ein Team mit 18 Spielern hat auch 18 Olympiasieger, aber nur eine Medaille im Medaillenspiegel. Der Aufwand ist groß, noch größer dürfte aber der Multiplikator-Effekt sein, denn 18 Spieler erreichen mehr Menschen als ein einzelner Medaillengewinner.
Mehr Zentralisierung als bisher, das ist dieser Tage eine häufig artikulierte Forderung. Die angedachte Reduzierung der aktuell 19 Olympiastützpunkte würde aus meiner Sicht mehr Effektivität bedeuten, zumal die meisten Aufgaben durch die mehr als 200 Bundesstützpunkte übernommen werden könnten. Eine Konzentration von Sportarten auf bestimmte Standorte existiert bereits im Wintersport, da die teilweise aufwendigen Trainings- und Wettkampfanlagen nicht überall vorgehalten werden können. Diese Situation ist auf die meisten Sommersportarten nicht übertragbar. Gewachsene Strukturen, sogenannte Nester, vor Ort mit mehreren Athleten derselben Sportart und einem kompetenten Betreuerstab können durchaus erfolgreich sein.
Die Glaubwürdigkeit sportlicher Spitzenleistungen hat noch nie so gelitten wie diesmal. Wir haben einen Bankrott des Dopingkontrollsystems erlebt. Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln! So könnte man kurz und bündig die Widersprüchlichkeiten und teilweise irrationalen Entscheidungen einordnen. Der Weißrusse Iwan Tichon, nachweislich einer der schlimmsten Doper, gewann in Rio die Silbermedaille im Hammerwerfen. Anschließend posierte er lachend mit der weißrussischen Fahne. Ihm waren unter anderem Olympia-Silber 2004, WM-Titel 2005 und EM-Titel 2006 wegen Dopings mit anabolen Substanzen aberkannt worden. Wie müssen sich saubere Athleten fühlen, wenn ihnen Null-Toleranz gepredigt wird!
Internationales Olympisches Komitee (IOC) und Welt-Antidoping-Agentur (Wada) schieben sich gegenseitig die Schuld zu. Fast zwei Jahrzehnte sind seit der Gründung der Wada vergangen. Die damals feierlich prophezeite weltweite Harmonisierung der Dopingkontrollen ist heute weiter entfernt denn je. Zwei Aussagen machen besonders nachdenklich. Craig Reedie, der Präsident der Wada, antwortete vor einem Jahr auf das Dopingproblem in Kenia, dass seine Organisation in Kenia nicht zu ermitteln brauche; die Regierung Kenias erledige das schon. Alfons Hörmann, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, warf der Wada am Schlusstag der Olympischen Spiele in Rio in einem Interview vor, sie habe Russland vor Sonderkontrollen informiert.
Offensichtlich ist das System krank. Man muss sehr mutig sein, will man den derzeitigen Versprechungen auf Besserung Glauben schenken.
Wilfried Kindermann
Univ.-Prof. em. Dr. med. Wilfried Kindermann (75) ist Facharzt für Innere Medizin, Kardiologie und Sportmedizin. Er war Arzt bei acht Olympischen Sommerspielen, Chefarzt des deutschen Olympiateams und von 1990 bis 2000 internistischer Arzt der Fußball-Nationalelf.
SPORT
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Medaillen über alles
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