Nach dem Austritt aus der EU droht der Zerfall Großbritanniens
ie Briten haben sich am 23. Juni vergangenen Jahres für einen Austritt aus der EU entschieden. Schottland, Nordirland und der Großraum London waren mehrheitlich für den Verbleib. In 263 der 382 Wahlbezirke wurde für einen Austritt Großbritanniens aus der EU gestimmt. Nach Auszählung der Stimmen hatte das Brexit-Lager einen Vorsprung von rund 1,3 Millionen Stimmen vor den EU-Befürwortern. Am Ende sprachen sich damit 52 Prozent der Briten für einen Austritt aus, die Brexit-Befürworter haben sich mit vier Prozent Vorsprung durchgesetzt.
Neun Monate nach dem Brexit-Referendum reichte Großbritannien nun am 29. März offiziell die Scheidungspapiere in Brüssel ein. Der Weg für die zweijährigen Verhandlungen mit der Europäischen Union ist seither frei. Ministerpräsidentin Theresa May erklärte dazu, dass Großbritannien eine stolze Vergangenheit und eine glänzende Zukunft habe. Die Menschen müssten nunmehr zusammenstehen.
Das werden sie wohl in der Tat müssen. Schon Friedrich Schiller wusste um die Halbwertzeit menschlicher Regungen: "Der Wahn ist kurz, die Reue ist lang!" (Die Glocke). Inzwischen dämmert es den Briten, dass die Auflösung des Quasi-Ehebundes mit den anderen 27 europäischen Mitgliedsstaaten nicht so einfach sein wird, wie es die es Populisten Boris Johnson und Nigel Farage ihnen vor der Abstimmung vorgegaukelt hatten.
Im Gegenteil, die Scheidung von Brüssel kostet ganz wie im richtigen Leben richtig Geld. Folgt man den immer lauter werdenden Stimmen aus der Bevölkerung, den Medien und den Stimmen aus Schottland, Nordirland und Wales, so erinnert vieles an Wilhelm Busch: "Und der Hals wird lang und länger, und der Gesang wird bang und bänger!" (Max und Moritz).
Die Skepsis der Schotten ist sogar so groß geworden, dass ihre Regierungschefin Nicola Sturgeon mit ihrem Schreiben an die britische Premierministerin May bereits zwei Tage nach dem britischen Scheidungsantrag in Brüssel am 31. März offiziell ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum für Schottland beantragt hat. "Das schottische Volk muss das Recht haben, über seine eigene Zukunft zu entscheiden", schrieb die Regierungschefin. Die Schotten wollen in der Wirtschaftsgemeinschaft der EU bleiben, die Nordiren wegen ihrer engen agrar-ökonomischen Verflechtung mit dem EU-Land Irland auch, und neuerdings auch die Waliser. Um Theresa May wird es langsam aber sicher einsam.
Wenn alle diese Provinzen aus dem englischen Staatenverbund ausschieden, würde aus Großbritannien ganz schnell Kleinbritannien, es bliebe nur England übrig. Ein schrecklicher Gedanke, nicht nur für die Briten, auch für die Kontinental-Europäer. Nicht ohne Grund wurden zigtausend deutsche Söhne und Töchter in England und Schottland erzogen und bevölkerten anschließend die britischen Universitäten. Kurz: Ohne die Briten würde den Europäern etwas fehlen.
Noch ist England nicht verloren, noch keimt die Hoffnung auf den Exit vom Brexit, auch wenn dies rechtlich schwierig würde. Der Grund für einen fundamentalen Gesinnungswandel sind die täglich klarer werdenden Fakten und dass auf die Briten am Ende des Trennungsprozesses eine saftige Brexit-Rechnung wartet. Nach neuesten Berechnungen müssten die Briten beim Austritt aus der EU etwa 87 Milliarden Euro nach Brüssel überweisen. Folgelasten für EU-Pensionäre und ähnliches kommen hinzu.
Der Verhandlungsweg für die Briten ist steinig, sie sitzen in allen Belangen am kürzeren Hebel. Zumal die "Hardliner" in der EU gegenüber dem Vereinigten Königreich "brutalstmöglich" verhandeln. Zunächst müssen in den nächsten zwei Jahren 20.000 Sachverhalte bilateral geregelt werden und zwar einvernehmlich. Kommt es bis Ende März 2019 nicht zu einer Einigung und auch zu keiner Verlängerung der Verhandlungen, fliegt Großbritannien ungeregelt aus der EU und fällt real- und handelspolitisch ins Chaos.
Würde London unter dem Vorwand der Sicherung der Einheit des Vereinigten Königreiches gesichtswahrend und der Vernunft folgend die Absicht, die EU verlassen zu wollen, widerrufen, wäre allen Teilen geholfen. Und es würde der Bürokratie in Brüssel Gelegenheit geben, sich zu reformieren.
Dr. Helmut Becker
"Saarlandbotschafter" Dr. Helmut Becker (73) ist Gründer und Direktor des Instituts für Wirtschaftsanalyse und Kommunikation (IWK). 1943 wurde der Diplom-Volkswirt und -Kaufmann in Türkismühle geboren. Er war unter anderem Chefvolkswirt bei BMW.