Ihr Vorname bedeutet "Anmut überströmend" und ist so etwas wie Bestimmung. Fe Reichelt ist Tänzerin, Choreografin und Tanztherapeutin, war Schülerin der berühmten Mary Wigman und übt ihre Berufung auch heute noch aus mit 91 Jahren.
Fe Reichelt spricht vertraut mit den Pflanzen, zupft hier und da ein welkes Blättchen aus den bunten Blüten ihrer Balkonkästen. 91 Jahre ist die Tänzerin, Choreografin und Tanztherapeutin und hat eine Strahlkraft, die nie zu versiegen scheint. Wie ihr schwebender Gang, wenn sie durch ihre Wohnung streift, mit einer kindlichen Unbefangenheit mal hier, mal dort, dieses oder jenes ihrer Habe zeigt, Erinnerungen einer wechselvollen Geschichte.
Diese Geschichte begann 1925 in Peking. Die Eltern lebten dort seit 1923, der Vater arbeitete in einem chinesischen Krankenhaus. Die Mutter, gebürtige Bayerin, war mit ihm gegangen. Ihren Namen bekam Fe Reichelt von ihrem Patenonkel, Richard Wilhelm Reich, der Übersetzer des "Tao Te King", einem Text von Laotse und "I Ying Das Buch der Wandlungen". In China bedeutet Fe "Anmut überströmend". Die östlichen Wurzeln bestimmten ihren Weg. "Meine Eltern nahmen mich oft mit zu den Tempeln. Als kleines Mädchen staunte ich über die riesigen Buddhas und Dämonen mit den großen Füßen und Tatzen. Ich ahmte ihre Gestalt nach und überwand so meine Angst vor ihnen."
Fe Reichelt steht an ihrem zweistöckigen Puppenhaus am Fenster, setzt die kleinen Bewohner aus den unterschiedlichsten Zeitepochen auf Stühlchen, Sofas oder Sessel. Jeder Puppe gab sie einen eigenen Namen und eine eigene Geschichte. "Märchen, Zauber und Magie, sich in etwas zu verwandeln und sehen, was für Gestalten dabei entstehen, hat mich immer fasziniert. Als ich fünf war, entdeckte ich bei Verwandten eine aufgezogene Spieluhr. Ich war so angetan von der Musik, dass ich mir dazu eine kleine Choreografie ausdachte. Kinder, mit denen ich befreundet oder verwandt war, mussten sich an einem bestimmten Punkt hinstellen und sich nach der Melodie bewegen".
Die östlichen Wurzeln bestimmten entscheidend ihren Weg
Die Mutter schickte das aufgeweckte und auffallend bewegliche Mädchen in eine Gymnastikgruppe. "Ich bewunderte die kleinen chinesischen Mädchen mit ihren weißen seidenen Hemdchen. Sie strahlten so viel Leichtigkeit aus. Ich selbst schien plump neben ihnen gewirkt zu haben, so beschrieb es jedenfalls meine Mutter. Das verletzte mich tief."
Jahre später in Deutschland wurde Fe Reichelt Mitglied des Gertrude-Steinweg-Balletts in Halle. "Ich setzte alles daran, meinen Körper so hinzubiegen, dass ich wie eine echte Balletteuse aussehe. Auf der Bühne allerdings muss ich wie eine Walküre gewirkt haben, meinte kopfschüttelnd meine Lehrerin. Das kränkte mich erneut."
Mit 24 wurde sie Meisterschülerin bei Mary Wigman, der Pionierin des Ausdruckstanzes. "Versuchte ich bis dahin meinen Körper zu formen, wollte ich ihn jetzt gestalten, beseelen, mich aus meinem Inneren heraus ausdrücken. Mary Wigman unterrichtete mich oft einzeln. Klopfte wiederholt auf meinen Brustkorb, der fest und blockiert war, so kopflastig wie ich war und nahezu besessen von Ehrgeiz. Ich merkte, ich kann nur frei werden durch Loslassen und Ausatmen. Lange wusste ich nicht, was es heißt, leer zu sein." Sie betrachtete immer wieder die dickbäuchigen, lächelnden Buddhas, erzählt sie, bis sie entdeckte, dass nicht nur der Geist, sondern auch der Körper leer, das heißt, durchlässig werden muss.
"Oft frage ich mich, was mache ich mit mir, was tue ich mir an? Wo bin ich gerade. Wie atme ich? Nicht andere, nicht das andere ist schuld, sondern ich selbst lasse dieses oder jenes mit mir machen. In solchen Momenten hilft nur wieder runterkommen, den Atem sinken lassen und von vorn beginnen. Erst wenn der Atem fließt, kann ich tanzen und weich werden."
Fe Reichelt entwickelte den "Atemkreis", gegründet auf ihren östlichen Wurzeln, dem Qigong. Sie erkannte, dass Tanz und Atem viele Lebensthemen beinhalten, "weil sich in unserer natürlichen Atmung unser seelischer Zustand zeigt gnadenlos oder gnädig."
Die Tänzerin und Choreografin ist Mutter dreier Kinder und war zweimal verheiratet. "Der eine betrog mich, der andere trank. Daraus zog ich meine Konsequenz, mein Lebensprinzip: Wenn ich irgendetwas ändern kann, dann ändere ich es. Stelle ich fest, es ist nicht zu ändern, dann ändere ich meinen Weg." Fe Reichelt gründete Tanzschulen, baute in Frankfurt am Main die Tanz- und Theaterwerkstatt auf. Mit 52 Jahren studierte sie Sonderpädagogik und wurde Mitbegründerin des Frankfurter Instituts für Tanztherapie.
"Ich bin häufig ungeduldig. Außer mir. Aufgeregt. Unter Zeitdruck. Mein Vater sagte immer: Kannst du eigentlich auch warten? Ich sagte Ja. Dann zeig es, mahnte er. Antwortete ich mit nein, hieß es: Dann übe es!" Sie glaubt, dass sie das Ruhelose von ihren Großvätern geerbt hat. "Der eine ging immer auf Wanderschaft, der andere war sehr fromm und streng. Streng bin auch ich, vor allem zu mir selbst", erzählt die Tänzerin mit leichtem Augenzwinkern. "Häufig denke ich, ich muss doch nicht so pedantisch sein und extra aufstehen, um den Vorhang oder die Decke gerade zu rücken, nur dass alles im Lot ist."
Fe Reichelt, deren Wesen dem eines neugierigen, aufgeweckten Kindes gleicht, verspielt, von dezentem Charme, strebt noch mit 91 nach Entwicklung. Mit leuchtenden Augen verweist sie auf ihren Taschenkalender. Jeden Samstag früh um 7 Uhr Schwimmen. Sommer wie Winter. Jeden Freitag Massage. Termine durch die Institutsgründung. "Allmählich lerne ich aber, Aufgaben abzugeben, meine Kräfte einzuteilen. Ich lebe nach den vier Kardinaltugenden: Gerechtigkeit, Mut, Klugheit und Ordnung. Nach dem Aufstehen das Bett machen. Aufräumen. Die Morgenübungen. Ich weiß, wenn ich sie nicht mache, geht es mir schlechter. Wenn ich keine Lust habe, denke ich an etwas Fröhliches. Dann fällt es leichter." Es gebe keinen Tag in ihrem Leben, an dem sie nicht Neues lerne. "Wenn mir etwas runtergefallen ist, überlege ich, warum das jetzt passiert ist. Wäre ich aufmerksamer und achtsamer gewesen, wäre das nicht geschehen. Jeder Tag ist eine Übung für den achtsamen Moment. Wenn allerdings die Familie mit Kindern und Enkelkindern hier einströmt, dann heißt es, flexibel sein."
Jeden Tag
etwas Neues lernen
Gerade heute habe sie ihr Testament gemacht, erzählt die in Würde gealterte Frau. "Meine Familie wird erschrecken. Aber es muss sein. Viele Menschen um mich herum sterben. Der Tod meldet sich nicht an. Das Älterwerden hat mich nie aus der Bahn geworfen. Ich war in meinem Leben nur mit den Aufführungen beschäftigt. Ich war schon über 70 und tanzte immer noch mit freien Oberarmen, da empfahl man mir, meine Fledermausärmel besser zu bedecken. Ich hingegen konzentrierte mich so auf die Inhalte der Tänze, dass ich die schlaffen Oberarme gar nicht bemerkte. Natürlich möchte ich schön aussehen, vor allem möchte ich mich schön fühlen. Das ist pure Freude. Auch wenn ich keine Gäste erwarte, räume ich auf und ziehe mich hübsch an. Das bin ich mir wert. Wenn ich etwas in der Welt bewirken möchte, dann muss ich glaubwürdig sein und gepflegt, auch vor mir selbst."
Das Tanzen werde sie nicht aufgeben, sagt Fe Reichelt. Noch elf Workshops leitet sie im Jahr. "Ich habe solch eine Freude daran, dass ich nach den Seminaren noch munterer bin als zuvor. Wenn ich erlebt habe, wie interessiert die Teilnehmer alles aufgenommen haben, bin ich glücklich. An diesem Abend schreibe ich in meinem Kalender: Danke. Zurzeit beschäftigt mich das Thema: Wer bin ich? Warum sind wir so, wie wir sind?"
Mit 91 ist sie immer noch engagiert für ihre Passion. Erst vor wenigen Monaten gründete sie mit einem kleinen Kreis ehemaliger Schülerinnen das "Fe Reichelt Institut" in Berlin. "Anfangs stolperte ich über meinen eigenen Namen. Dann war ich einverstanden, ich möchte ja meine Erfahrungen weitergeben. Vor allem die Morgenübungen, den von mir entwickelten Atemkreis, dem ich immer neue Aspekte für die therapeutische Anwendung hinzufüge." Zurzeit arbeitet sie daran, ihr Buch über den Atemkreis neu aufzulegen. "Ich bin ein atmender Körper, der sich mit allen Sinnen ausdrückt. Der Atem ist meine Mitte. Nun werde ich noch warten, bis mein Verein auf die Beine kommt und froh sein, wenn ich dann abtrete."
"Ich bin sicher,
alles kommt, wie es kommen soll"
Es gibt Momente, in denen sie Angst vor dem Tod habe. "Das sind so kleine Anflüge, die wieder vergehen. Ich bin sicher, alles kommt, wie es kommen soll. Das ist dann richtig. Im Grunde bin ich zuversichtlich und voller Hoffnung, dass es ein friedlicher Abschied werden wird. Irgendwie macht es mich auch neugierig, wie der Übergang wohl sein wird, was mich hinterm Horizont erwartet." Manchmal verspüre sie direkt Sehnsucht nach dem Tod, vor allem in Zeiten, in denen sie erschöpft oder niedergeschlagen ist.
"Sobald ich mich aber etwas erholt habe, bin ich froh, dass ich noch da bin. Glücklich macht mich, dass ich dankbar bin und unvoreingenommen, ohne Vorurteile. Ich frage Menschen, wer bist du? Wie geht es dir? Schon entsteht Vertrauen. Es berührt mich, dass ich von so vielen Menschen uneigennützig Hilfe bekomme. Das Wort Allein ist ein eigentlich schönes Wort. Alleinsein, das ist jetzt mein Lebensgefühl. In einsamen Momenten wende ich mich meinen Alltagsaufgaben zu und denke an den chinesischen Satz: Das tägliche Tun ist des Himmels Weg."
Christel Sperlich