In Kenneth Lonergans preisgekröntem Drama "Manchester by the Sea" muss sich der verbitterte Lee nach dem Herztod seines Bruders um dessen 16-jährigen Sohn Patrick kümmern. Doch die Heimkehr in seine Heimatstadt wird zum emotionalen Looping.
Das Schicksal ist und bleibt ein mieser Verräter. Aber wie sagte die österreichische Erzählerin Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach zu Recht: "Nicht, was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus." In der Tat ist Schicksal eine subjektive Sache der Wahrnehmung. Die Details und Nuancierungen des alltäglichen Wahnsinns bringt dieses Arthaus-Highlight seit seiner US-Premiere als brandheißer Geheimtipp für die nächste Oscar-Verleihung 2017 gehandelt bedächtig auf den Punkt: Lee Chandlers (Casey Affleck) Dasein als verbitterter Hausmeister wird eines Tages durch einen Anruf, der ihn in sein Heimatstädtchen Manchester zurückbeordert, dramatisch auf den Kopf gestellt. Als er in der Klinik eintrifft, in der sein herzkranker Bruder Joe (Kyle Chandler) liegt, ist der bereits verstorben. Dem ersten Schock folgt der zweite. Bei der Testamentseröffnung erfährt Lee, dass Joe ihn zum gesetzlichen Vormund seines 16-jährigen Sohnes Patrick (Lucas Hedges) auserkoren hat, mit zukünftigem Wohnsitz in Manchester. Augenscheinlich scheint die Welt in dem malerischen Ort noch in Ordnung zu sein, doch hinter den heimeligen Holzhausfassaden lauern die Bürden des Lebens, oder das, was man Leben nennen könnte: Krankheiten, Alkoholismus, Scheidung, Generationskonflikte und völliges Versagen im Umgang mit dem Nachwuchs. Die Lebenswelt der Chandler-Brüder spiegelt ein Amerika des kleinen Mannes schonungslos wider, der über die Runden kommen muss. So haben weder Joes, noch Lees Ehen gehalten. Während Lee in Joes Heim weilt, um mit Patrick zukünftige Schritte zu planen, holen ihn die Schatten der Vergangenheit ein, vor allem das frühere Zusammenleben mit seiner Ex-Frau Randi (Michelle Williams) samt den drei Kids. Lees neue Pflichten lenken ihn zwar vom eigenen Ungemach ab, doch ist noch nicht genügend Gras über vergangenes Versagen gewachsen. Und das spürt Lee allerorten. Allmählich aber gewöhnt sich der scheue Zwangssingle an das 16-jährige Bürschchen, das mit seiner unverblümten Art seinen Onkel in prekäre Situationen bugsiert.
Ein Amerika des kleinen Mannes
Obwohl alte Wunden aufreißen, Lee sich mit Schuld, Zorn und Trauerarbeit auseinandersetzen muss, versucht er, sein Leben ins Reine zu bringen, den No-Future-Nimbus endgültig abzustreifen. Für den Zuschauer ist es dabei ungeheuer packend, Lees Geheimnis, die Gründe seines dauerdepressiven Gebarens und letztlich seine Lösung mitzuerleben. Dies seziert der renommierte Independentfilmer Kenneth Lonergan nicht ohne sanfte humorige Zwischentöne: So schreckt auf der Trauerfeier das laute Vibrieren eines Mobiltelefons inmitten getragener Klänge die Gemeinde auf, so versagt während des dramatischen Abtransportes mit dem Rettungswagen der Mechanismus einer Tragbahre, und so wird auch der Konflikt in klirrender Kälte zwischen Onkel und Neffe durch das Nichtwiederfinden des abgestellten Autos augenzwinkernd konterkariert. Es scheinen die banalen Befindlichkeiten des Lebens zu sein, die hier einzelne Schicksale lenken. Und sei es nur das bibbernde Umherirren der beiden, bis der Wagen endlich gefunden wird.
Matt Damon hatte die Idee zum Film
Gesucht und gefunden haben sich indes Produzent Matt Damon und Ausnahmemime John Krasinski ("Verlockenes Spiel"). Die hatten nämlich die Idee zu diesem profunden Bravourstück. Ursprünglich wollte die "Jason Bourne"-Ikone den Hauptpart selbst übernehmen, musste jedoch aus Termingründen dem brillant agierenden jüngeren Bruder von Ben Affleck den Vortritt lassen. "Manchester by the Sea" zelebrierte am 23. Januar 2016 seine von Kritikern hochgelobte Weltpremiere auf dem Sundance-Film-Festival. Kenneth Lonergans Regiedebüt "You Can Count on Me", hatte schon im Jahr 2000 auf dem wichtigsten, seit 1981 unter der Ägide von Robert Redford geförderten Filmfestival der Welt für unabhängige Filmproduktionen, den Großen Preis der Jury abgeräumt. Lonergan adelt nicht nur den Regiestuhl, sondern auch das dialogwitzige Skript, zumal seine Filmperle es 2014 auf Hollywoods Schwarzer Liste der beliebtesten noch nicht verfilmten Drehbücher schaffte. Den 54-jährigen New Yorker Dramatiker, faszinieren nach eigenen Angaben besonders "Beziehungen und vielfältige Perspektiven, wie der Mensch damit im alltäglichen Leben damit fertig wird", erläuterte er in den US-Filmgazetten. "Lee ist nicht die einzige Person in der Welt. Er geht auf die Straße, zur Arbeit, das Leben prallt auf ihn herab. Allerdings versucht er sehr bewusst, es in Schach zu halten." Und wie er es in Schach hält, darauf kann sich der Fan gehaltvoller und spannungsgeladener Filme freuen. Übrigens: Ein Küstenörtchen namens Manchester by the Sea existiert de facto im Nordosten der USA. Es liegt im Bundestaat Massachusetts, gut 20 Kilometer nördlich von der Ostküstenmetropole Boston entfernt und zählt 5.140 Seelen.
Jean Lüdeke
INFO: Manchester by the Sea
USA 2016/ Familien-Drama/
Tragikomödie
Regie: Kenneth Lonergan
Drehbuch: Kenneth Lonergan
Kamera: Jody Lee Lipes
Musik: Lesley Barber
Länge: 136 Minuten
Darsteller: Casey Affleck,
Michelle Williams, Kyle Chandler, Tate Donovan, Heather Burns, Kara Hayward, Lucas Hedges, Gretchen Mol
Bundesweiter Kinostart:
19. Januar 2017
Im Internet:
manchesterbytheseathemovie.com