Das Zwei-Sterne-Restaurant "Rutz" in Mitte ist eines der ambitionierten Häuser der Stadt. Das Zusammenspiel von kulinarischer Raffinesse und perfekt abgestimmter Weinbegleitung ist herausragend. Im Erdgeschoss in der Weinbar gibts Klassiker, im ersten Stock ist die kreative Spielwiese von Marco Müller.
Die Wahrheit ist immer auf dem Teller oder im Glas", sagt Marco Müller, Küchenchef im "Rutz". Was sich nach schlichter Erkenntnis anhört, ist Resultat eines längeren Erkenntniswegs. Eine Idee wird so lange ausprobiert, bis sie sich in ein rundes, perfektes, neuartiges Gericht verwandelt hat. Die Weinwahl so lange justiert, bis das Getränk das richtige Maß an Kontra gibt, ein spezielles Aroma triggert oder das Gericht zart umgarnt. In aller selbstbewussten Bescheidenheit bringen Marco Müller und das 19-köpfige Team "Reduktion ohne Verlust" in sechs oder neun Gängen auf den Tisch. Bevor weitere Wahrheiten in der Mitte, im Auge des Betrachters oder auf dem Platz liegen, treten wir einen "Winterlichen Waldspaziergang" an. Der Wald liegt direkt an der Chausseestraße, und er hat drei Stationen. Ich verspeise einen mit Douglasien-Salz bestreuten Pilzchip auf einem Tapioka-Streifen und nehme das zarte, nadelige Aroma über Nase und Geschmacksknospen auf. Douglasien-Salz? Tatsächlich. Getrocknete Tannennadeln aromatisieren das Salz. Es ist eine dieser Kreationen, die das "Rutz"-Team, so wie alles andere, selbst in der Küche herstellt. Oha.
Nun habe ich erst an Punkt drei Halt gemacht und den ausdrucksvollen Löffel mit Wirsing, eingelegten und gezupften Pfifferlingen und einem Streifen getrockneten Hirschfleisches zu mir genommen. Ob es erlaubt ist, zunächst das Wild zu erlegen? Glücklicherweise gibts im Keramikschälchen keine festgelegten Waldwege. Ich erfreue mich anschließend am Knäckebrot mit Leinsamen, Wirsing, Dorsch und Rotkraut. In der "korrekten" Abfolge, aber auch andersherum funktioniert das problemlos. Die Umkehrung gewohnter Abläufe und Herangehensweisen ist im "Rutz" durchaus Programm.
Nach diesem Gruß folgen sechs leichte, meist gemüsebetonte Gänge, die gern die gewohnte Sortierung auf den Kopf stellen. So gibts im "Fleischgang" ein Stück sous vide gegarte Ente, aber auf einem Extrateller als Beilage. Eine mit kalter Butter langsam erwärmte Schwarzwurzel und Petersilienwurzel baden in einem "Pilztee" aus fünf Arten sowie Kräutern. Der Tee wird aus einer Eisenkanne im Teller aufgegossen. Ein Häppchen Entenschinken ist die Klammer zwischen Gemüse- und Fleischteller. Keine Frage, das "Wurzelwerk" bleibt mit seinen Aromen am Boden, die intensiv fleischige Éttoufée-Ente flattert stückchenweise dazu an, spielt sich jedoch keineswegs in den Vordergrund. Ein 2014er Morgon Cru von der Domaine Fouillard im Beaujolais unterstreicht mit Butterkaramell in der Nase das Gemüsige des Gerichts. Der junge, rote Hüpfer im Glas bleibt durch die Maische-Gärung der ungepressten Trauben und den Ausbau im Stahltank frisch und luftig. Er behandelt Ente und Wurzeln mit Respekt.
"Wir haben den Mut, uns aufs Wesentliche zu konzentrieren"
Die Gänge tänzeln nach vorn, drehen die eine oder andere Pirouette und springen weiter. Dazu braucht es Spannung und Rhythmus. Nicht aber gediegene Extras wie möglichst teure und verschnippte Produkte. Im Gegenteil. So nah, gut und bekannt wie möglich sollen die Zutaten sein. Diese leichtfüßige Dramaturgie spüren wir in jedem Bissen und mit jedem Schluck Wein. "Wir erzählen eher die längere Geschichte eines Produktes", sagt Müller.
So auch in unserem Menü. Wir treten aus dem Wald heraus und stehen am Meer. Schwertmuscheln, Rogen und Dorsch sind die Nebendarsteller, das Bohnenkraut der Star. Bohnenkrautöl und -essenz werden am Tisch verschüttelt und als hell-dunkel-grünes Mini-Meer angegossen. Der Co-Star wartet im Glas auf uns, ein Welschriesling von Uwe Schiefer aus dem Burgenland. Sommelier Alexander Seiser hat den Wein, der so mineralisch betont ist wie der Winzer heißt, zum Gericht ausgewählt. Was Wein und Sommelier gleichermaßen können, erleben wir mit einem Schluck ganz nebenbei. Einige Kügelchen vom Zanderrogen weilen im Mund und werden vom Wein touchiert. Es macht "Peng": Der Fisch ist voll da, vervielfacht sich in seiner Präsenz. Große Überraschung! Zu Muscheln und Bohnenkraut zieht sich der im Holzfass ausgebaute, abgerundete Weiße diskret zurück und lässt ihnen mit einer leichten, höflichen Verbeugung den Vortritt.
Das Zusammenspiel von Gericht und Getränk ist nichts weniger als aufregend und exakt auf dem Punkt. Wie sollte es anders sein in einem Restaurant, das dem Genuss-Kosmos des "Weinladen Schmidt" entstammt? Praktisch ab der ersten "Beta-Version" eines neuen Gerichts ist Alexander Seiser an Marco Müllers Seite, entwickelt seinen Part parallel mit. "Wir probieren genau so lange, bis es sitzt", sagt Müller. "Das kann nach ein, zwei Mal sein oder nach zwanzig Mal Probieren."
Die Zeit und die Freiräume, die sich Küchenchef und Sommelier miteinander nehmen, schmecken durch. "Wir brauchen keine lauten Zaubertricks mit Zylinder und Kaninchen. Wir haben den Mut, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren", sagt Müller. "Wir fragen uns: Wie kann das alles leiser werden und in die Tiefe gehen?" Es ist kein Zufall, dass die "Inspirationsmenüs" mit sechs- oder neun "Erlebnissen" für 129 oder 169 Euro aufwarten. Passende Begleitung im Glas gibts für zehn Euro je Glas. Wenns noch speziellere flüssige Erlebnisse aus der hauseigenen, mit Winzern und Brennern gemeinsam entwickelten Reihe "Rutz Rebell" sein sollen, wird die "rebellische Kellerbegleitung" für 19 Euro je Glas ausgeschenkt.
Die Gerichte im Restaurant loten die Vielfalt der Möglichkeiten im Umgang mit den häufig regionalen Produkten aus. "Wir arbeiten nur mit Produkten, deren Erzeuger wir persönlich kennen." Größtmögliche Nähe wird im "Rutz" seit jeher praktiziert: "Wir nutzen, was da ist." Während derzeit Lindenzweige in der Vase der optischen Erbauung dienen, werden bald einige von Bäumen draußen gesammelte umziehen: "Zwei Wochen, bevor es richtig losgeht, stellen wir die Lindenzweige in den Keller und warten, bis die Blätter richtig gelb-grün rauskommen. Dann machen wir etwas damit."
"Jung genug, meine eigenen Gerichte zu entwicklen"
Marco Müller übernahm vor 13 Jahren die Küche im "Rutz", hatte das Konzept für eine Weinbar zuvor gemeinsam mit Lars Rutz sowie Anja und Carsten Schmidt entwickelt: "Wir wollten dem Wein ein neues Gesicht geben." Ralf Zacherl leitete in den ersten beiden Jahren die Küche. "Ich war noch nicht ganz fertig mit dem Harlekin", sagt Müller über seine Zeit im Sternerestaurant des Hotel "Esplanade". Der Plan, aus regionalen Produkten, "die vor 15 Jahren noch schwer zu bekommen waren", fokussierte Gerichte zum Wein zu entwickeln, kann inzwischen als überaus gelungen wie grandios gescheitert bezeichnet werden: "Im Grunde haben wir mit dem "Rutz" angefangen, um auf Punkte oder Sterne zu verzichten." Das Resultat: 2007 gabs den ersten Michelin-Stern, den das "Rutz"-Restaurant durchgängig hielt. Ende vergangenen Jahres kam der zweite Stern und damit der einzig neue zweite in Berlin dazu.
Vom Gault Millau gabs 18 Punkte. Die "Weinbar Rutz" im Erdgeschoss, wurde für 2017 ebenfalls mit dem "Bib Gourmand" des Michelin ausgezeichnet. Das 25-Plätze-Restaurant mit Bauhaus-inspirierten Stühlen und rötlich warmtonigen Tischen aus Bubengaholz im ersten Stock ist die kreative Spielwiese von Marco Müller. "Unten in der Weinbar gibts Klassiker und Mutti-Küche zum Wohlfühlen mit einer Flasche Wein." Die dortige "Rettung der deutschen Esskultur" kommt aus derselben Küche, in der auch die besternten, feinbeinigeren Kreationen gezaubert werden. Sie reicht vom soliden Butterbrot mit "Hambels" Pfälzer Leberwurst für 7,50 Euro bis zum Aubrac-Rib-Eye-Steak für 34 Euro. Die "Weinbar" mit ihren 35 Plätzen ist eine gute Gelegenheit, in den "Rutz"-Kosmos hineinzuschmecken und abends auf gut Glück vorbeizuschauen.
"Oben gibts keine Klassiker", sagt der 46-jährige Müller. "Ich fühle mich jung genug, meine eigenen Gerichte zu entwickeln. An Ideen mangelt es mir nicht." Davon konnten wir uns mit größtem Vergnügen auf einer vielfältigen, fein-aromatischen Geschmacksreise zwischen Land und Meer überzeugen. Pendelten wir dieses Mal zwischen Winterausklang und Frühlingsvorboten, freuen wir uns auf einen erneuten, besonderen Besuch in der wärmeren Jahreszeit auf der Terrasse. Wer weiß schon, was dann aus der Zitronenmelisse und von den dortigen Rebstöcken ganz leise und diskret auf die Teller gezaubert wird?
Von Ute Schirmack
Ute Schirmack ist Journalistin, Autorin und Erforscherin großstädtischer Lebensräume. Diese Lebensräume sind unter anderem die Restaurants, Cafés und Bars in Berlin, die sie nun auch mit Stift und Papier genüsslich erkundet.
Info:
Rutz Restaurant
Chausseestraße 8
10115 Berlin-Mitte
Telefon 030-24628760
www.rutz-restaurant.de
Öffnungszeiten:
Restaurant Di. bis Sa. ab 18.30 Uhr,
Weinbar Di. bis Sa. ab 16 Uhr