In der "Datscha" in Kreuzberg treffen deutscher und russischer Geschmack und Gepflogenheiten auf Tellern, in Gläsern und Suppentassen aufeinander. Und das schmeckt grandios. Wer die Namen der Gerichte nicht aussprechen kann: einfach auf die Empfehlung der Angestellten vertrauen und genießen.
So lob ich mir das "Kollektiv": Russische Vorspeisen in zehn Gläschen warten unter diesem Namen auf einer Platte vereint darauf, von uns verspeist zu werden. Klassiker der russischen Küche wie Ei mit Mayonaise und Lachskaviar und moderne Interpretationen wie gebackenes Schweinefleisch mit scharfer "Adjika"-Gemüsepaste spielen mit. Salzgurke, Pelmeni und Malzbrotscheiben dazu. Sie repräsentieren allesamt die Vielfalt der Küchen der ehemaligen Sowjetunion. Nur auf die "100 Gramm Wodka", die uns typisch osteuropäisch in Gewicht und nicht in Millilitern auf der Karte angekündigt werden, verzichten wir lieber.
Auge, Nase und Gaumen essen mit
Dabei könnten wir uns an Spirituosen gütlich tun und uns zwanglos benehmen. Wir befinden uns schließlich auf der "Datscha". Grund und Boden fürs Wochenend-Landhäuschen wurden allerdings weder vom Zaren noch vom Regierenden Bürgermeister übereignet, sondern vom Vermieter per Vertrag übernommen. Und die "Datscha" wurde auch nicht im Umland von Moskau, sondern mitten im Graefekiez errichtet. Macht aber nichts. Denn das Ambiente und die Zwanglosigkeit des Originals funktionieren auch innerstädtisch und mit der angerauten Berliner Lässigkeit sowieso.
Ein herzhaftes "Sa Sdorowje" also mit Mineralwasser und einem "Moskwa"-Bier für den Fotografen zum Start in den Abend! "Für Russen ist die Datscha der Ort, an dem man den Sommer verbringt", sagt Serafima Berenstein, die die Oberhoheit über die Küche innehat. Da trifft es sich gut, dass die "neue" "Datscha" Kreuzberg rechtzeitig im Januar ihre Pforten öffnete. An der Böckh-, Ecke Graefestraße stehen die orangefarbenen Stühle und die Tische draußen und erweitern das weitläufige Lokal mit seinen 90 Plätzen ebenso großzügig ins Freie. Dabei ist eigentlich das Innere mit dem zusammengewürfelten Gelsenkirchener Spätbarock sehenswert: Beige-bräunliche 70er-Jahre-Lilienmuster überwuchern die Tapete in einem der drei Gasträume ganzwändig. Unterschiedliche, mit farbigen Ornamenten verzierte Fenster sind zu Durchgängen und Raumteilern zusammengebaut. Auf Regalen thronen Hirsch- und Marder-Skulpturen, große Kronleuchter verbreiten gedämpftes Licht.
Post-sowjetische Gemütlichkeit hin, Revolutionsromantik her wir widmen uns dem Essen, das Serafima Berenstein schickt. Das Auge isst mit, Nase und Gaumen noch viel mehr. Deutscher und russischer Geschmack und Gepflogenheiten treffen auf Tellern, in Gläsern und Suppentassen aufeinander. "Die Deutschen lieben zum Beispiel Spinat", weiß sie. Folgerichtig werden im "Datscha" Teigtaschen mit Spinat-Füllung serviert. "Das würde man in Russland so nicht essen." Mit Kartoffeln oder "Brynsa"-Fetakäse gefüllte allerdings sehr wohl. Andererseits würden Russen nur Butter oder Saure Sahne als "Sauce" akzeptieren. In Berlin gibt es jedoch ebenso Pesto oder Pilzsauce zu Teigtaschen und Blini, den russischen Crêpes warum auch nicht?
Erlaubt ist, was gefällt und was den Gästen schmeckt. Deshalb stehen so richtig zeitgenössisch-urberlinerisch vegetarische Spielarten und sogar eine vegane Variante wie die "Wareniki Marburg" mit Kartoffel-Quinoa-Füllung, Shiitake-Pilzen, Artischocken und Avocado auf der Karte. Auch der vegetarische Borschtsch dürfte in Russland wohl kaum anzutreffen sein. Er schmeckt selbst ohne Rindfleisch frisch, leicht und gemüsig. Die halbmondförmigen Teigtaschen mit einem kleinen Salat und oft auch saurer Sahne, ganz gleich ob "Wareniki", "Kreplach" oder "Pelmeni", gibts einheitlich für elf Euro. Die volkstümliche Preisgestaltung dürfte auf der touristischen Rennstrecke ebenfalls die Einheimischen erfreuen: Hauptgerichte mit Fleisch oder Fisch liegen im Bereich von zwölf bis 15 Euro, Blini gibts für neun bis elf Euro und Burger für 10,50 bis 12,50 Euro.
Die Vorspeisen
sind eine echte Wucht
Eine deutsch-russische Fusion wiederum findet in den "Golubzi" als typisch deutsche Wirsingroulade mit typisch russischer Buchweizen-Füllung statt. Die Familienrezepte der Großmutter von Serafima Berenstein sind die Grundlage für die Weiterentwicklungen in der Restaurant-Küche. Die studierte Gastronomie-Ingenieurin brachte sie 1991 mit, als sie von Moskau nach Berlin zog und anno 1996 gemeinsam mit ihrem Bruder ihr erstes Lokal, das "Gorki Park" in Mitte, eröffnete. Das "Pasternak" und das "Sauerkraut" kamen dazu, 2008 folgte das erste "Datscha" im Friedrichshain. Zeit genug, um die sich in Berlin entwickelnden Küchenstile zu verfolgen, die Geschmäcker immer wieder abzugleichen und Neues abzuleiten. Die koreanisch inspirierten Möhren etwa, die uns im Vorspeisenglas entzücken. Die säuerlich eingelegten Wurzeln verleugnen ihre kasachisch-usbekische Herkunft keineswegs, Sesam und ein Hauch von Knoblauch weisen jedoch weiter in Richtung Fernost. Insbesondere die gemüsigen Spielarten der Vorspeisen erfreuen uns: marinierte Pilze, ein kleiner Salat von Kohlrabi mit Äpfeln, Sellerie und Ingwer oder ein Tomatensalat mit Ziegenkäse. Hervorragend funktionieren auch die in "Salo"-Speck gewickelten Zuckerschoten. Die knackig blanchierten Feinerbsen nehmen dem Räucherspeck den Wumms und drehen ihn zu einem zartwürzigen Aromageber um. Eier mit Mayonnaise und Lachskaviar, "Olivje"-Kartoffelsalat und Heringssalat fügen sich klassisch ins Bild ein und sind in so kleinen Einheiten selbst ohne Wodka-Zufuhr bekömmlich.
Avocadostücke lagern auf Auberginensalat. Getoppt mit Adjika, einer roten, scharfen Kräuter-Gewürzpaste, kommt dabei eine stückig dekonstruierte, georgisch inspirierte Guacamole heraus, die vorzüglich zum Malzbrot passt.
Der Barmann schwört
auf Tschachochbili
"Nehmt das Tschachochbili, das ist mein Lieblingsessen", ruft uns Barmann Ivan zu, als wir uns in den Auswahlmöglichkeiten bei den Hauptgerichten etwas verfranzen. Abgesehen davon, dass es uns nicht gelingt, den Namen unfallfrei auszusprechen, bestellen wir den Hähnchenfleisch-Eintopf auf seine Empfehlung hin. In einer dichten, mit Rotwein und Koriander abgeschmeckten und stückig eingekochten Tomaten-Zwiebelsauce wartet das geschmorte Fleisch auf uns. Zwei in Knoblauchbutter geröstete Weißbrotscheiben verdecken die Aromabombe, die sich darunter verbirgt. Selbst wenn ich das nächste Mal mit dem Finger auf die Karte zeigen muss und nur noch "Das da!" sagen kann: Dieser schwerst-aromatische georgische Schmortopf ist eine Wucht. Für dieses Wohlfühlgericht allein lohnt das Wiederkommen.
Wir halten uns die Bäuche, der Schmortopf war, sogar aufgeteilt auf drei Personen, ordentlich. "Ihr hattet doch nur die halbe Portion", sagt Ivan. Aber wir hatten ebenfalls die Blini mit Lachs und Merrettich sowie die mit rotem Kaviar. Und von den "Chebureki", den großen, gebratenen Teigtaschen mit Lammhack und Koriander. Darauf noch eine Maß vom "Moskwa"-Bier, in dessen Glaskrug mit Hammer-und-Sichel-Signet sich der Fotograf gleich verliebt hat. Bevor er auf die Idee kommt, den Krug ungefragt in seiner großen Fotografentasche verschwinden zu lassen, bekommt er ihn kurzerhand geschenkt. Es gibt offenbar Gründe für den "Aufruf an das Volk" in der Speisekarte. Der Verhaltenskodex für die Gastfreundschaft gibt unter Punkt zwei vor: "Es ist verboten, aus der Einrichtung Tische, Geschirr, Bestecke, Presse, Aschenbecher unter anderem zu entwenden, doch Kaffeetassen und Biergläser können am Tresen erworben werden."
"Babuschka",
die russische Antwort
auf Panna Cotta
Die Verliebtheit des Fotografen schwenkt indes rasch zum nächsten Glas über, allerdings zu einem Einweckgläschen, in dem das Dessert serviert wird. Die "Babuschka" darin, eine vanillige Dessertcreme mit Himbeersauce, hat es ihm ebenfalls angetan. Kein Wunder, dass der italienische Feinschmecker-Fotograf "die russische Antwort auf Panna Cotta" mag. Ein bisschen wärmer und mehlspeisiger ist "Jabloko", eine Kombination aus gebackenen Apfelringen, Preiselbeeren, Walnüssen, Rum und Vanillesauce. Ein Glück, dass wir nach unserem kleinen, zwanglosen "Datscha"-Gelage alle über einen zusätzlichen "Dessertmagen" verfügen, den wir nach einem doppelten Espresso zu füllen vermögen. Anschließend fühlen wir uns bereit, dem an den Tresen geschriebenen Spruch "Jeder Bürger hat das Recht auf Freiheit" zu folgen. In unserem Falle heißt das: Frischluft schnappen auf der Straße. Wir nehmen uns die Freiheit, uns demnächst, bei einem erneuten Besuch der "Datscha", durch all die anderen Speisen weiter hindurchzuprobieren.
Ute Schirmack ist Journalistin, Autorin und Erforscherin großstädtischer Lebensräume. Diese Lebensräume sind unter anderem die Restaurants, Cafés und Bars in Berlin, die sie nun auch mit Stift und Papier genüsslich erkundet.
INFO:
Datscha
Graefestraße 83
10967 Berlin-Kreuzberg
Telefon 030-55611216
Öffnungszeiten:
Mo. bis So. 9 bis 1 Uhr
www.datscha.de