Dr. Matthias Riedl, Leiter des Medizinischen Versorgungszentrums Medicum Hamburg, wurde 2013 von "Focus" als Top-Mediziner im Bereich Ernährungsmedizin ausgezeichnet. Mit FORUM sprach er über Vor- und Nachteile veganer Ernährung.
Herr Dr. Riedl, seit einigen Jahren kann man bei Restaurantbesuchen oder auf Geburtstagsfeiern ein Phänomen beobachten: Viele Menschen erkundigen sich, ob das gewünschte Gericht auch glutenfrei, laktosefrei, rein biologisch, vegetarisch oder vegan ist, da es sonst nicht infrage kommt. Was denken Sie, woher dieses neue Bewusstsein für Ernährung rührt?
Meldungen über Zusammenhänge von Krankheiten und Ernährung haben die Menschen ebenso aufgeschreckt wie Fragen der Tierhaltung oder der Umweltbelastung von Lebensmitteln. Alles zusammen führt dazu, dass viele ihre Ernährung kritisch sehen. Immerhin haben Vegetarier, die Fisch, Eier und Milchprodukte essen, die größte Lebenserwartung. Mehr pflanzliche Ernährung könnte unserer gesamten Gesellschaft guttun, weil sie zu weniger Übergewicht und einem geringeren Blutdruck führt.
Sehen Sie es positiv, dass sich so viele Menschen nun mit dem Thema Ernährung beschäftigen?
Ich begrüße das ganz außerordentlich, weil es längst überfällig ist, dass sich unsere Gesellschaft mit der Auswirkung der Ernährung auf die Gesundheit befasst. Immerhin sind 80 Prozent der Herz-Kreislauf-Erkrankungen und 40 Prozent aller Krebsarten eng mit dem Ernährungsverhalten assoziiert. Dabei spielt natürlich die Ernährung neben dem Sport die wichtigste Rolle, wenn man von Nikotin-Konsum und Alkoholmissbrauch absieht. Immerhin sagt die Weltgesundheitsorganisation, dass die Diabetes- und Übergewichtswelle in ein, zwei Jahrzehnten unser Gesundheitswesen in der jetzigen Form existenziell gefährdet. Obwohl viele Menschen verstehen, welche Kraft eine gesunde Ernährung entfalten kann, fehlt es noch an Hilfen aus der Ärzteschaft, von Krankenkassenseite und erst recht aus der Politik. Aber ein Anfang ist gemacht.
Für wie gesund halten Sie im Speziellen eine vegane Ernährungsweise bis zu welchem Punkt ist vegan sinnvoll und ab wann könnte sie unter Umständen ungesund werden?
Vegane Gerichte sind uneingeschränkt zu empfehlen, besonders wenn sie sattmachende pflanzliche Eiweiße aus Hülsenfrüchten oder Nüssen enthalten. Auch vegane Tage sind eine gute Idee, gerade für Menschen, die abnehmen möchten. Wir wissen heute, dass eine pflanzlich betonte Ernährung für Menschen gesund ist und der Urform unserer Menschen-typischen Ernährung entspricht. Die sekundären Pflanzenstoffe aus Gemüse zum Beispiel entfalten für uns viele positive Effekte wie Entzündungs- oder Krebshemmung. Von den Vitaminen und Spurenelementen einmal abgesehen.
Worauf sollte man achten, wenn man sich vegan ernährt, damit man mit allen Nährstoffen versorgt wird?
Kritisch kann die Versorgung mit dem für Fleisch typischen Vitamin B12 werden. Aber auch Eisen-, Kalzium- und Jod-Mangel ist bei Veganern zu befürchten. Da Vitamin D über die Haut durch UVB-Strahlung selbst gebildet werden kann, führt eine Fisch- und Milchprodukt-arme Ernährung nur bei solchen Veganern zu einem Vitamin D-Mangel, die sich nicht im Freien aufhalten.
Sind bei ausgewogener veganer Ernährung Zusatzstoffe notwendig?
Selbst bei ausgewogener veganer Ernährung sollte der Vitamin B12- und der Vitamin D-Spiegel immer wieder unter Kontrolle gehalten werden.
Kann man Kinder vegan ernähren?
Ich gebe der Deutschen Gesellschaft für Ernährung Recht, wenn sie die vegane Ernährung von Kindern und Heranwachsenden als gesundheitsgefährdend ansieht. Selbst bei guter Information der Eltern kann es zu Entwicklungsrückständen bei Heranwachsenden kommen, besonders wenn die Eiweiß-Zufuhr im Wachstum nicht richtig berechnet wird. Außerdem wissen wir heute, dass 60 Prozent unserer Kinder ohnehin schon an einem Jodmangel leiden. Und wenn man bedenkt, dass Jod für die Gehirnentwicklung essenziell ist, könnte sogar die geistige Entwicklung unter einer falsch durchgeführten veganen Ernährung leiden.
"Pflanzliche Eiweiße werden schlechter aufgenommen"
Unterscheiden sich pflanzliche von tierischen Eiweißen?
Pflanzliche Eiweiße, wie in Hülsenfrüchten oder Nüssen, sind weniger stark bioverfügbar. Das heißt, sie werden schlechter aufgenommen als tierisches Eiweiß. Die Aufnahme kann durch die Mischung von tierischen und pflanzlichen Eiweißen deutlich gesteigert werden wie etwa bei Ei und Kartoffeln. Pflanzliche Eiweiße sind für alle Menschen gesund und sollten regelmäßig auf den Teller kommen. Besonders geeignet sind Bohnen, Erbsen, Linsen oder Pilze und Nüsse.
Welche nicht tierischen Lebensmittel enthalten viel Eisen?
Blumenkohl, Mangold, Pflaumen, Stachelbeeren, Erdbeeren, Erbsen, Kohl-Gemüse, Rote Bete und Sauerkraut enthalten Eisen. Die Aufnahme von Eisen wird durch Vitamin C gefördert, das ist für eine abwechslungsreiche pflanzliche Ernährung sehr gut.
Manche Menschen verzichten komplett auf Zucker, ungesunde und industriell hergestellte Lebensmittel und ernähren sich fast nur von Smoothies, andere leben "raw" und essen ausschließlich Rohkost. Ist Orthorexie also das Verlangen, sich so gesund wie möglich zu ernähren auch schon eine Krankheit?
Die Orthorexie ist als eigenständiges Krankheitsbild umstritten. Meist steckt eine besondere ideologische Ausrichtung hinter dieser Form der Essstörung. Hält die Orthorexie über längeren Zeitraum an, sind die Betroffenen häufig von Schuldgefühlen und den ständigen Gedanken um das Essen geplagt. Meistens liegen auch zwanghafte Persönlichkeitszüge vor. Insgesamt ist die Lebensqualität dadurch natürlich erheblich eingeschränkt. Es ist eben die gesamte Mischung unserer Ernährung, die uns Gesundheit bringt und nicht die zwanghafte Einseitigkeit einer ideologischen Ausrichtung. Nur Rohkost zu essen bedeutet, dass einige Nährstoffe schlechter aufgenommen werden, die durch das Kochen für uns besser verfügbar werden. Sicherlich ist das Vermeiden von Zucker immer gesund, das darf jedoch nicht auf Kosten der Lebensqualität übertrieben werden. Anders verhält es sich mit Fertignahrung. Auf diese kann problemlos verzichtet werden. Aber auch hier sollte daraus keine Religion entstehen. Essen soll auch Spaß machen.
Interview: Kristina Scherer-Siegwarth