Martin Schulz will ein Duell auf Augenhöhe mit der Kanzlerin erzwingen
Die Verzweiflung muss schon ziemlich groß sein. Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat erst einen beispiellosen Höhenflug in den Umfragen hingelegt, dann einen fulminanten Absturz. Dazu kamen drei krachende Niederlagen bei Landtagswahlen, bei denen sich der Schulz-Effekt als Platzpatrone erwies. Und was macht Bundeskanzlerin Angela Merkel? Sie besucht den Papst, gibt beim G7-Gipfel in Taormina Ende Mai die Bannerträgerin für Freihandel und Klimaschutz. Wenige Tage danach prostet sie dem früheren CSU-Widersacher Horst Seehofer bei einer Bierzeltrede in München-Trudering fröhlich zu und setzt gleichzeitig einen heftigen Nadelstich gegen den von Europa wegdriftenden US-Präsidenten Donald Trump.
In einer auf schnelle Reize ausgerichteten Mediengesellschaft sind das alles Fernsehbilder, die hängenbleiben. Hier die in den höheren Sphären der Weltpolitik schwebende Kanzlerin, dort der sich abstrampelnde Herausforderer, dessen Partei allerdings immer noch im großkoalitionären Regierungsboot sitzt. Wenn sich dann Merkels CDU wieder der 40-Prozent-Marke nähert, dann bedeutet das für den SPD-Spitzenkandidaten Alarmstufe Rot.
Dass Schulz nun sein Heil in der Abteilung Attacke sucht, ist vor diesem Hintergrund verständlich. Er muss angreifen, er will die sachpolitische Auseinandersetzung mit der Kanzlerin erzwingen, die natürlich weiß, dass ihre internationale Erfahrung einer ihrer größten Trümpfe ist. Deshalb verweigert sie sich der innenpolitischen Debatte mit den Sozialdemokraten, die bei der Steuer- und Rentenpolitik immerhin vorgelegt haben.
Das alles muss Schulz fürchterlich fuchsen. Doch beim SPD-Parteitag am Sonntag in Dortmund hat der Kandidat den Bogen überspannt. Er geißelte Merkels taktische Ausweichbewegung als "Anschlag auf die Demokratie". Mit dem gleichen Argument könnte man die Wahlenthaltung von Leuten, die der Meinung sind, ihre Stimmabgabe ändere eh nichts, als "Anschlag auf die Demokratie" bezeichnen.
Hinter Schulz Flucht nach vorn steckt zum einen Frust. Zum Zweiten will der 61-Jährige die eigene Basis mobilisieren. Die SPD soll über den Kampf zum Sieg kommen, mahnt der frühere Hobby-Fußballer.
Ob die Rechnung aufgeht, darf bezweifelt werden. Eine echte Wechselstimmung ist in Deutschland nicht spürbar. Zumindest ist der Sättigungseffekt nach zwölf Jahren Merkel nicht so hoch wie nach 16 Jahren Kanzlerschaft von Helmut Kohl. Im April gab es erstmals mehr als 44 Millionen Erwerbstätige. Drei Viertel davon sind sozialversicherungspflichtig angestellt auch das ein Rekord. Die Arbeitslosenrate liegt bei unter fünf Prozent, was unter Ökonomen fast als Vollbeschäftigung gilt. Auch wenn dies nur das makroökonomische Bild abgibt und der Aufschwung bei Berufsgruppen wie Krankenschwestern oder Pflegekräften nicht wirklich ankommt: Ein flammender Appell für eine neue Regierung lässt sich daraus nicht ableiten.
Die konjunkturelle Großwetterlage ist kein ausgesprochenes Verdienst Merkels. Aber sie wird im Zweifel eher der Kanzlerin gutgeschrieben als dem Oppositionsführer. Merkel setzt auf die Macht der Gewohnheit in schwieriger Zeit. "Sie kennen mich", verabschiedete sie sich 2013 nach der Fernsehdebatte mit ihrem sozialdemokratischen Gegner Peer Steinbrück. Ja, es stimmt: Merkels Regierungsstil ist alles andere als mitreißend, es fehlen frische Ideen. Und die Kanzlerin sediert das Land eher, als dass sie es unter Strom setzt.
Aber möglicherweise ist es genau das, was eine Mehrheit der Bürger derzeit wünscht. "Kurs halten, keine Experimente, das Schiff ohne größere Schäden durch schwere Wasser steuern", mögen die Leitplanken eines Großteils der Bevölkerung suggerieren. Brexit und Terror, ein irrlichternder US-Präsident Trump sowie ein auf eine Eskalation zusteuernder Naher Osten vermindern den Appetit auf gigantische Neuentwürfe für die internationale Politik.
Schulz und sein Team klammern sich an eine Erkenntnis: Noch nie waren Wahltrends und Wahlergebnisse so schwer vorauszusagen wie heute. Zuletzt hat dies die Schlappe für die britischen Konservativen gezeigt, die sich unter der Brexit-Queen Theresa May auf der Gewinnerstraße wähnten. Nichts ist mehr sicher, auch nicht ein Durchmarsch für Merkel. Darin besteht das Prinzip Hoffnung für Schulz & Co.
Von Michael Backfisch
Michael Backfisch war Vize-Chefredakteur der Saarbrücker Zeitung, arbeitete als Washingtoner Bürochef des Handelsblatts, später als Nahost-Korrespondent für die Financial Times Deutschland in Dubai. Heute ist er Leitender Redakteur Politik in der Berliner Zentralredaktion der Funke-Mediengruppe.
POLITIK
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Abteilung Attacke
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