Der Rücktritt von Italiens Regierungschef zeigt, woran es in Europa krankt.
Wäre der scheidende italienische Ministerpräsident Matteo Renzi ein Schauspieler, müsste man ihm beste Noten geben. Jugendlicher Charme, Charisma, einnehmende Körpersprache: Seine Rolle überzeugte. Als der damals 39-Jährige sein Amt im Februar 2014 antrat, herrschte Aufbruchstimmung in dem von der klamaukhaften Berlusconi-Politik ausgezehrten Land. Der Mann, der sich als Bürgermeister von Florenz erste Weihen erworben hatte, verkaufte sich blendend als "rottamattore", als Verschrotter des alten Systems aus Bürokratie, Filz, Mafia und hoffnungsloser Ineffizienz.
Und am Anfang wirbelte der selbsternannte Reformator vom Dienst mächtig Staub auf. Er entrümpelte erst das Straf-, dann das Zivilrecht. Die Justizverfahren wurden beschleunigt. Richter bekamen nur noch 30 statt 45 Tage Urlaub. Darüber hinaus peitschte Renzi eine Lockerung des Kündigungsschutzes sowie Steuererleichterungen für diejenigen Unternehmen durch, die neue Festanstellungen schufen.
Es folgten ein Anti-Korruptionsgesetz und im Juli 2015 eine Bildungsreform, nach der Lehrer erstmals nach Leistung statt nach Dienstjahren bezahlt werden sollten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt regte sich Widerstand die Gewerkschaften demonstrierten vehement gegen die neue Regelung. Renzis Popularitätskurve ging nach unten. Sein später aufgelegtes Vorhaben, das System der sich zwei gegenseitig blockierenden Parlamentskammern zu entschlacken, erwies sich als Bumerang. Am Sonntag stimmten fast 60 Prozent der Italiener gegen den Plan, den Senat weitgehend zu entmachten, um das Regieren einfacher zu machen.
Der Grund für diese Schlappe ist einfach: Die Mehrheit der Bevölkerung war mit der Politik des smarten Ministerpräsidenten unzufrieden. Das Leben der meisten hat sich seit Beginn von Renzis Amtszeit nicht verbessert. Die Arbeitslosenrate, die 2007 noch um die sechs Prozent lag, ist heute doppelt so hoch. Bei den Jugendlichen hat fast jeder zweite keinen Job. Nach 2007 hat Italien fast zehn Prozent seiner Wirtschaftsleistung und ein Viertel seiner Industrieproduktion eingebüßt. Die Mühlen von Verwaltung und Justiz mahlen nach wie vor sehr langsam. Fazit: Viele sahen in den teils spektakulären Vorstößen des Regierungschefs vor allem Theaterdonner.
Hinzu kommen die Schatten der Verschuldung. Der Staat steht heute mit 2,1 Billionen Euro in der Kreide, das entspricht 133 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nur Griechenland ist im Euroraum noch schlechter dran. Zum Vergleich: In Deutschland beträgt der Wert 68 Prozent.
Renzis Niederlage ist keine italienische Spezialität. Sie zeigt exemplarisch, woran es bei der politischen Elite in Europa krankt: Es ist das Missverhältnis zwischen großspurigen Ankündigungen und der Realität. Auch Frankreichs Präsident François Hollande scheiterte zuletzt an diesem Widerspruch. Er hatte eine deutliche Reduzierung der hohen Arbeitslosenrate versprochen und steht nun vor den Scherben seiner Politik.
Weite Teile der EU sind heute von Fehlentwicklungen in zwei Bereichen geprägt: der Wirtschafts- und der Flüchtlingspolitik. Bedenklich ist vor allem die soziale Schieflage in vielen Ländern. Die Arbeitslosigkeit hat zugenommen, Niedriglöhne, Zeit- und Leiharbeit sind auf dem Vormarsch, die Mittelklasse schrumpft und leidet unter Abstiegsängsten. Gleichzeitig werden die Reichen reicher. Die Banken bekommen trotz abenteuerlicher Zockereien Rettungsmilliarden vom Staat. Und während die Masse der Bevölkerung den Gürtel enger spannen muss, streichen Spitzenmanager wieder satte Boni ein.
Die Unfähigkeit der Gemeinschaft, den Flüchtlingsansturm zu koordinieren und zu steuern, hat diesen Druck verstärkt. Viele Menschen insbesondere die einkommensschwächeren haben das Gefühl, dass die Migranten ihnen etwas wegnehmen. Der weit verbreitete Eindruck: Der Sozialstaat, der eigentlich für die "Einheimischen" dazusein habe, werde durch die Leistungen für die "Fremden" überstrapaziert.
Die vielerorts fehlende soziale Symmetrie in Europa ist der Nährboden für die Populisten von links und rechts. Die Parteien von Beppe Grillo (Italien), Marine Le Pen (Frankreich) oder Geert Wilders (Niederlande) liegen derzeit in den Umfagen ganz oben. Renzis Fall sollte ein Warnschuss für die politischen Eliten sein.
Von Michael Backfisch
Michael Backfisch war Vize-Chefredakteur der Saarbrücker Zeitung, arbeitete als Washingtoner Bürochef des Handelsblatts, später als Nahost-Korrespondent für die Financial Times Deutschland in Dubai. Heute ist er Leitender Redakteur Politik in der Berliner Zentralredaktion der Funke-Mediengruppe.
POLITIK
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Nahaufnahme: Renzis Fall
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