Die EU muss ein nüchternes Verhältnis zur Türkei entwickeln
Man reibt sich verwundert die Augen. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz reist nach Ankara und versichert der Türkei die "uneingeschränkte Solidarität". Der Begriff ist keine hohle Formel, er birgt einen hohen politischen Symbolgehalt. Mit diesen Worten hatte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder US-Präsident George W. Bush kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 den festen transatlantischen Schulterschluss zugesagt.
Das ist umso erstaunlicher, als Schulz noch vor wenigen Wochen über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan herzog. Nachdem dieser die Aufhebung der Immunität vieler türkischer Parlamentarier veranlasst hatte, warf Schulz dem starken Mann in Ankara vor, eine "Ein-Mann-Herrschaft" zementieren zu wollen.
Die Kehrtwende scheint in Brüssel plötzlich zum Programm geworden zu sein. Die EU-Außenbeauftrage Federica Mogherini und der Erweiterungskommissar Johannes Hahn machten der türkischen Regierung ebenfalls ihre Aufwartung. Neuerdings erhält Ankara eine ziemlich konkrete Perspektive zum Beitritt in die EU. "Die Türkei war, ist und wird ein Kandidatenland sein", bekräftigte Hahn. Er befürwortete die Beitrittskapitel 23 und 24, bei denen es unter anderem um Justiz, Grundrechte und Freiheit geht. Die Kommission habe mit Vorbereitungen begonnen, die Entscheidung für die Eröffnung liege aber bei den Mitgliedsstaaten. Keine Frage: Es bahnt sich eine diplomatische Pilgerwelle zum früheren Buhmann an.
Kuschelkurs statt verbales Einprügeln auf Erdogan, lautet auf einmal die Devise. Das war selbst kurz nach dem gescheiterten Putschversuch Mitte Juli noch völlig anders. Man musste den Eindruck haben, dass sich bei einigen im Westen klammheimliche Freude über den politischen Überlebenskampf des türkischen Präsidenten breitmachte. Dass große Teile der Bevölkerung für die Demokratie in ihrem Land auf die Straße gingen, fiel in der Betrachtung unter den Tisch. Von Solidaritätsadressen gab es damals keine Spur. Stattdessen wurde Erdogan für seinen rabiaten Kurs gegen innenpolitische Gegner gerügt.
Die harsche Kritik in den Tagen nach den Putsch-Unruhen ist über das Ziel hinausgeschossen und hier hat die Regierung in Ankara durchaus einen Punkt. Die aktuelle Charme-Offensive der EU Richtung Ankara ist allerdings ebenfalls verdächtig. Es drängt sich der Verdacht auf, dass damit das schlechte Gewissen über die einseitigen Reaktionen kompensiert werden soll.
Es wird Zeit, dass im Verhältnis des Westens zur Türkei etwas mehr Nüchternheit einkehrt. Die Pluspunkte müssen ebenso beim Namen genannt werden wie die Minuspunkte. Tatsache ist, dass die Türkei in der Nato eine wichtige Rolle einnimmt an der Grenze zum riesigen Pulverfass Nahost. Zweitens: Mit der Aufnahme von rund drei Millionen Flüchtlingen hat das Land wesentlich mehr Großzügigkeit bewiesen als viele Staaten in der auf ihre demokratischen und humanitären Werte so stolze EU.
Im gleichen Atemzug müssen die Negativpunkte und Risiken der Türkei offen angesprochen werden. Erdogan hat sich in einen gefährlichen Mehrfrontenkrieg gegen Kurden, die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) und Andersdenkende im eigenen Land begeben. Sein brutales Vorgehen gegen die politische Opposition, die freie Presse und der zunehmend autoritäre Führungsstil sind mit den rechtsstaatlichen Grundsätzen des Westens nicht vereinbar.
Aus diesem Grund ist es auf absehbare Zeit undenkbar, dass die Türkei EU-Mitglied wird. Auch die Visa-Freiheit für türkische Staatsbürger in der EU kann nicht ernsthaft erwogen werden, so lange Erdogan keine Abstriche an seinem Anti-Terror-Gesetz macht. Dieses Gesetz richtet sich gegen diejenigen, die Terror-Akte begehen, planen und "unterstützen". Letzteres wiederum ist ein Gummi-Paragraf. Mit ihm kann die Regierung alle, die anderer Meinung sind, nach Gusto mundtot machen.
In letzter Zeit leidet das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und der Türkei zu sehr an emotionalen Ausschlägen, die aus dem Moment heraus erfolgen. Das Ergebnis ist ein Zickzack-Kurs. Das muss aufhören. Kritik an Ankara ja aber mit Maß und Mitte. Wer die Regierung und das Land verteufelt, macht sich genauso unglaubwürdig wie derjenige, der sich an überschwänglichen Solidaritätsgefühlen berauscht.
Von Michael Backfisch
Michael Backfisch war Vize-Chefredakteur der Saarbrücker Zeitung, arbeitete als Washingtoner Bürochef des Handelsblatts, später als Nahost-Korrespondent für die Financial Times Deutschland in Dubai. Heute ist er Leitender Redakteur Politik in der Berliner Zentralredaktion der Funke-Mediengruppe.
POLITIK
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Riskanter Zickzack-Kurs
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