Nicht nur bei der Brexit-Abstimmung im britischen Unterhaus ist es passiert: Die Opposition ist ihrer Rolle nicht gerecht geworden. Statt heftig zu diskutieren und ernsthafte Alternativen zur Regierungspolitik zu erarbeiten, wurde alles abgenickt.
Es hat sich eine Unsitte im parlamentarischen Betrieb eingeschlichen. Statt das zu tun, wofür eine Opposition da ist, stimmen Oppositionsparteien häufig gemeinsam mit der Regierung. Damit verfehlt eine Opposition nicht nur ihre Aufgabe, sie gefährdet die Substanz der Demokratie. So geschehen im britischen Unterhaus, als die Labour-Partei ohne Not dem Brexit bedingungslos folgte und "bedingungslos" ist hier wörtlich gemeint: Der vermeintlich linke Oppositionsführer Jeremy Corbyn stellte keinerlei Bedingungen für seinen Freibrief an die ultrakonservative Regierung, in Brüssel die Scheidung einzureichen. Dabei bot die Ablehnung aller Labour-Änderungsanträge zu Theresa Mays Vorlage mehr als genug Anlass, das Gesamtpaket abzulehnen.
Das Oberhaus, die zweite Kammer des britischen Parlaments, fügte dem Brexit-Gesetz und damit Theresa May einige Blessuren zu, mehr nicht. Ein Antrag, das Königreich im europäischen Binnenmarkt zu halten, scheiterte auch im Oberhaus nicht zuletzt an Labour. Zur Begründung sagte Labour-Vertreterin Baronin Hayter, nur so könne das Ziel verwirklicht werden, die Einwanderung einzudämmen genau jene Einwanderung, die die britische Wirtschaft kräftig befeuert hat. Lediglich den etwa drei Millionen EU-Ausländern auf der Insel soll ein Bleiberecht eingeräumt werden. Darüber hinaus verlangten die Oberhaus-Mitglieder mehrheitlich, dass das Parlament über das Endergebnis von Theresa Mays Verhandlungen noch mal abstimmen darf.
Beides, die Zuwanderung auf EU-Ausländer zu beschränken und nochmals abstimmen zu dürfen, hatten auch die Oppositionsfraktionen im Unterhaus versucht, waren damit jedoch an der hauchdünnen Mehrheit der zunehmend rechtspopulistischen Tories gescheitert. Das Oberhaus hat lediglich Mays Zeitplan ein wenig durcheinander gebracht. Das Unterhaus, das in Sachen Gesetze das letzte Wort hat, wischte die beiden Wünsche jedoch vom Tisch. Die Premierministerin ist absolut nicht kompromissbereit, sie akzeptiert nichts weniger als einen Blankoscheck. Den hat sie nun, um mit ihm in Brüssel und Straßburg auf die Pauke schlagen zu können: Wie geplant, kann sie ihr Scheidungsgesuch Ende März einreichen.
Es geschah in Großbritannien schon zuvor, dass die Regierung ohne Not von der Oppositionsfraktion gestützt wurde. Bei einer weiteren Entscheidung von außergewöhnlicher außenpolitischer Tragweite waren es seinerzeit die Konservativen, die Tony Blair am 18. März 2003 ihre Zustimmung zum Irakkrieg gaben. In der damaligen Unterhausabstimmung gab es innerhalb der Regierungsreihen gar mehr Abweichler als bei der Opposition, und das, obwohl Blair angekündigt hatte, im Falle einer verlorenen Abstimmung zurückzutreten. Hätten die Konservativen damals also gegen Blair gestimmt, hätte dessen Ära an diesem Tag geendet.
Obwohl May dies nicht angekündigt hat, spricht vieles dafür, dass auch ihre Amtszeit eine sehr kurze geworden wäre, wenn Corbyns Reihen geschlossen gegen den Brexit votiert hätten, in Kombination mit ein paar Abweichlern von den Konservativen. Der Irakkrieg aber destabilisierte seinerzeit die gesamte Region und trug so über Umwege zu genau jener Fluchtbewegung bei, die dem Brexit-Lager gehörig Aufwind verschaffte. Man könnte durchaus zu dem Schluss kommen, dass es selten Gutes bringt, wenn die Opposition aus Gründen der "nationalen Einheit" die Regierung stützt.
Die Unart, ohne Not die Regierung zu stützen, ist nicht auf Großbritannien beschränkt. In Israel kommt dies regelmäßig vor, ebenso wie in Deutschland. Die CDU/CSU unterstützte 2001 in weiten Teilen den rot-grünen Beschluss der Schröder-Regierung zum Militäreinsatz in Afghanistan. Oder erst kürzlich stimmte die baden-württembergische SPD-Fraktion im Landtag einer deutlichen Erhöhung der Abgeordnetenrenten zu. Auch dies geschah ohne Not, und selbst, wenn es mit Not geschehen wäre: Ist es etwa Aufgabe der Opposition, Regierungsprojekten zur Mehrheit zu verhelfen?
Selten gut, wenn die Opposition die Regierung stützt
Es mag viele Gründe geben, warum eine Opposition dem Weg der Regierungsmehrheit folgt. Häufig findet sich zur Rechtfertigung der Begriff der "Verantwortung". Das ist Unsinn. Verantwortung für ihre jeweiligen Projekte, ob zum Guten oder zum Schlechten, trägt die Regierung, gestützt von ihrer parlamentarischen Mehrheit. Die Verantwortung der Opposition ist es, Alternativen anzubieten, Bruchstellen im Regierungslager zu suchen, diese auch für sich zu nutzen. Ist eine Regierungsmehrheit nicht stark genug, einer Opposition standzuhalten, muss sie ihre Projekte ändern, um etwaige Abweichler in den eigenen Reihen zurück auf ihre Seite zu bekommen. Dies ist ein normaler Prozess in einem demokratischen System. Zu beobachten war er etwa in Frankreich, anlässlich der Verabschiedung der Arbeitsmarktreformen, die in ihrer ursprünglichen Form vielen im sozialistischen Lager deutlich zu unternehmensfreundlich waren.
Labours Zustimmung zum Brexit begründete Corbyn damit, den "Willen des Volkes" nicht verwässern zu wollen. Aber was soll das heißen? Die meisten Labour-Wähler, und genau die vertritt die Fraktion, wollten keinen Ausstieg aus der EU. Vor allem aber sagten während des Wahlkampfs zur Abstimmung selbst Brexit-Befürworter, dass es keinen Ausstieg aus dem Binnenmarkt geben werde.
Wofür genau letzten Endes etwa 52 Prozent der Urnengänger und somit 37 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung stimmten, sucht sich nun jedoch jeder selbst aus. Die Unterhausfraktion der Labour-Partei hätte auch unter diesem Gesichtspunkt sehr viel mehr Spielraum gehabt. Zumal der eigene Standpunkt sich keineswegs immer an einer tatsächlichen oder vermeintlichen Mehrheit orientieren muss. Die Ironie bei der Sache bleibt, dass ausgerechnet die ständische Vertretung des britischen Hochadels das Oberhaus wenigstens etwas wirkungsvoller als die Bürgervertretung die Rechte der Bürger schützte. Bedenkt man, dass Bürger und niederer Adel die Rechte eben jenes Unterhauses in der ersten und einzigen britischen Revolution (1642 bis 1649) gegen die Vertreter genau jenes Hochadels erkämpften, kann man nur den Kopf schütteln.
Gern bekommen Oppositionen vorgeworfen, sie stimmten nur aus parteitaktischen Gründen gegen die jeweilige Regierung. Was soll daran schlecht sein? Schließlich ist es Aufgabe und Selbstverständnis der meisten politischen Parteien, die Regierung übernehmen zu wollen. Dazu gehört auch, den politischen Gegner zu schwächen. Diese Form des Streits und des Wettkampfs ist demokratische Essenz! Nehmen wir den umgekehrten Fall an, dass die politischen Konturen nicht in dieser Schärfe verlaufen und weniger erkennbar sind: Schnell wird dann geschimpft, dass die Parteien doch sowieso alle das Gleiche machten, dass es keine nennenswerten Unterschiede zwischen Union und SPD, zwischen Labour und den Tories, zwischen französischen Republikanern und Sozialisten gebe. Hat sich eine solche Stimmung erst einmal festgesetzt, sind Brandstiftern wie Trump, Le Pen und Orbán Tür und Tor geöffnet.
Der Verrat wird Labour verfolgen
All dies soll nicht heißen, dass es für eine Opposition genügen soll, trotzig gegen alles mit "nein" zu stimmen, was aus der Regierung kommt. Der Unterschied zwischen harter Opposition und Blockade besteht darin, dass eine Blockade die Demokratie nicht belebt, sondern sie lähmt. Zu erleben war dies beispielsweise bei den US-Republikanern vor der Wahl Trumps, die weder Gegenvorschläge noch Alternativen anboten: Kein noch so weitreichendes Angebot Obamas an die Republikaner konnte die rechten Kongressabgeordneten dazu bewegen, irgendeines seiner Projekte mitzutragen, und sei es noch so klein und unbedeutend. Mit eigenen Vorschlägen, die sie zu einer konstruktiven Opposition gemacht hätten, hat die Tea Party, der rechte Rand der Republikaner, aber nicht geglänzt. Ablehnung des Bestehenden war ihr einziges Programm, das nun, in radikalisierter Form, auch noch im Weißen Haus vertreten wird. So brachten die Republikaner das Land und die Weltwirtschaft mehrmals lieber an den Rand des Abgrundes, als den Haushalt abzusegnen.
Natürlich gehört es zum politischen Betrieb, dass Stimmen aus der Opposition benötigt werden. Auch der Kompromiss gehört zum demokratischen System, und eine Opposition ist gut beraten, sich dem Dialog nicht komplett zu verweigern. Geschieht dies aber, muss ihre Handschrift sichtbar sein. Dann kann sie auch den eigenen Anhängern vermitteln, dass ein Kompromiss nötig war und auch erreicht wurde. Was Jeremy Corbyn beim Brexit erreichte, war aber kein Kompromiss, sondern ein Ausverkauf. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dieser Verrat Labour noch sehr lange verfolgen wird möge dies anderen Demokraten, ob links oder rechts der Mitte, eine Warnung sein!
Von Nicholas Williams