Nichts gibt die Wirklichkeit objektiver wieder als Zahlen. Stimmt nicht, sagt ein renommierter Statistiker. Gerd Bosbach enttarnt, wie in der Politik mit Zahlen getrickst, getäuscht und manipuliert wird gerade vor Wahlen rückt dieses Thema wieder in den Fokus.
Der Statistik für eine trockene Materie hält, kennt Gerd Bosbach nicht. Der eher schmächtige Mathematiker ist ein Energiebündel, der sein Publikum von der ersten Minute in den Bann ziehen kann. Seine Auftritte sind ein gezielter Tabubruch. Er kommt als Zauberer daher, der auf offener Bühne auspackt, was sonst wie in der Trickkiste von Illusionisten dem öffentlichen Blick verborgen bleiben soll. Wenn er den Zylinder hebt, erscheint nicht nur das Kaninchen, sondern auch der Trick, wie es unter den Zylinder gekommen ist.
Eine von Bosbachs Lieblingsfragen an sein Publikum ist die nach dem Staat mit der höchsten Kriminalitätsrate. Natürlich kommen schnell die erwartbaren Zurufe mit den allseits bekannten Mafia-Hochburgen. Falsch, sagt der Statistik-Professor. Es ist der Vatikan-Staat. Klar, raunt das Publikum und denkt an die Vorgänge um die Vatikan-Bank. Wieder falsch.
Die weltweit höchste Kriminalitätsrate hat der Vatikan
Es ist die übliche Kleinkriminalität in Touristenhochburgen, etwa Taschendiebstähle. Rechnet man nämlich, wie in Kriminalitätsstatistiken üblich, deren Zahl um auf die Einwohnerzahl des Vatikanstaates (zuletzt waren im kleinsten Staat der Welt offiziell knapp 850 Einwohner gemeldet) liegt die Quote höher als in lebensgefährlichen Bandenkriegsregionen.
Das Beispiel ließe sich problemlos auf die Statistik über Ausländerkriminalität übertragen. Dort tauchen Delikte auf, die nur von Ausländern begangen werden können, wie illegale Einreise. Um einen aussagekräftigen Vergleich mit dem Durchschnitt der einheimischen Bevölkerung zu haben, müsste man diese korrekterweise abziehen. Was dann bleibt, ist eine Kriminalitätsrate in etwa auf deutschem Durchschnittsniveau.
Eine von Bosbachs Hauptthesen: Die einzelne Zahl mag "richtig" sein, aber sie gibt keineswegs die ganze Wirklichkeit wider. Und hinter der Auswahl, welche Zahlen präsentiert werden, stehen oft knallharte politische oder Verbandsinteressen. Ein von ihm gern zitiertes, schon etwas älteres Beispiel ist die Ankündigung des ehemaligen nordrhein-westfälischen Ministers, die Landesregierung werde 1.000 zusätzliche Lehrer einstellen. Klingt nach viel und einer großen politischen Anstrengung. Die relativiert sich aber schnell, wenn man dagegenhält: In dem Land gibt es weit über 6.000 öffentliche Schulen.
Bosbach kennt die Tricks und Täuschungsmanöver mit absoluten Zahlen ohne Bezugsrahmen, mit Prozentzahlen ohne Bezugsgröße und Umfragen ohne Beschreibung der befragten Gruppe aus langjähriger Erfahrung und unterschiedlichen Sichtweisen. Er war beim Statistischen Bundesamt, der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung und ist Professor für Empirische Wirtschafts- und Sozialforschung am Standort Remagen der Uni Koblenz. Politiker und Verbände, sagt er, neigen dazu, nicht Zahlen zu einem Thema anzufordern, sondern explizit solche Daten, die geeignet sind, ihre Thesen zu stützen.
Die Tricksereien bis zum eklatanten Verbiegen von Wirklichkeit sind nicht neu. Eines der bekanntesten Beispiele sind die Veränderungen in Sozialstatistiken. So gehört Bosbach zu den schärfsten Kritikern der Arbeitslosenstatistik, die "in den letzten 20 Jahren mehr als ein Dutzend mal" verändert worden sei, immer mit dem Ergebnis, dass es weniger offiziell ausgewiesene Arbeitslose gibt. Dagegen sind immer mehr aus der offiziellen Statistik rausgefallen, etwa weil sie in (Qualifizierungs-) Maßnahmen stecken, Ein-Euro-Jobber sind. Oder in der Ausbildungsstatistik, wenn unversorgte Jugendliche verpflichtet werden, weiter eine Schule zu besuchen, somit aus der Statistik der Lehrstellensuchenden rausfallen.
Nun ist der geflügelte Satz "Trau keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast" Allgemeingut. Warum also trotzdem diese Statistikgläubigkeit? "Das ist ganz dubios", findet Bosbach und vergleicht das mit der Expertengläubigkeit. Lehnt man eine Position ab, lautet der Vorwurf: "Du hast ja deinen eigenen Experten". Ist man aber dafür, "dann glaubt man es." Schwieriger wird es, wenn sich etwas zum Mainstream entwickelt. "Da sagt es der CDU-Politiker und der SPD-Politiker, dann kommt es in den Medien und irgendein sogenannter Experte hat es auch gesagt." Die Reaktion: "Wenn alle das sagen, dann muss das stimmen und schon prüft man nicht mehr." Dabei würde sich in etlichen Fällen herausstellen: "Das, was alle sagen, hat oft nur eine einzige Quelle. Nur einer hat es gesagt, und alle anderen plappern nach."
Besonders deutlich wird das Problem, wenn es um internationale Vergleiche geht. Erinnert sei an die Diskussion um die Renten in Griechenland. Lange beherrschte ein Vergleich die öffentliche Debatte: Griechen gehen im Schnitt mit 56 in Rente, Deutsche mit 64. Was nicht erwähnt wurde: In Griechenland gibt es kein vergleichbares System wie in Deutschland, wo Arbeitslose in der Regel bis zum 63. Lebensjahr Sozialhilfe erhalten. Ältere arbeitslose Griechen sind somit gezwungen, früher in Rente zu gehen, was den Altersdurchschnitt naturgemäß senkt.
Extrem kritisch sieht Bosbach auch den Umgang mit Prognosezahlen insbesondere über längere Zeiträume. "Was die fernere Zukunft angeht, kann ich nichts voraussagen", so sein Credo. Entsprechend hart geht er mit Bevölkerungsprognosen über die nächsten Jahrzehnte ins Gericht. Erstens hätte das schon in der Vergangenheit nie wirklich funktioniert, und zweitens hält er die Art der Darstellungen der demografischen Entwicklung für ziemliche Panikmache. Zahlen, wonach die Sicherung der Altersversorgung auf immer weniger Schultern ruhen würde, würden als "Angst-Zahlen" in die Diskussion gebracht.
Ein Blick ins letzte Jahrhundert zeige: Die Menschen sind älter geworden, die Zahl der Kinder deutlich zurückgegangen, der Rentneranteil deutlich gestiegen. Also "müsste das letzte Jahrhundert eine wirtschaftlich-soziale Katastrophe gewesen sein". Stattdessen ist der Wohlstand gewachsen und der Sozialstaat ausgebaut worden. Hauptgrund war und ist die stetig steigende Produktivität.
Würde man die heutigen Entwicklungen auf 50 Jahre hochrechnen, kämen Zahlen zustande, die angsteinflößend wirken nach dem Motto: "Wir werden immer älter, immer mehr Rentner, wir können uns das nicht leisten." Über diese Demografie-Angst sei es in den letzten Jahren gelungen, "dass wir jetzt immer mehr privat vorsorgen und die gesetzliche Rente immer weiter runtergefahren wird". Die Versicherungswirtschaft wollte an den Rentenanteil und Arbeitgeber an die Lohnnebenkosten, sprich Rentenbeiträge, meint Bosbach. Zudem habe die Politik ein größeres Augenmerk auf die Förderung von Großvermögen statt die Finanzierung der Rentenversicherung gelegt.
Zahlen schüren Angst vor Demografiewandel
Eine aktuelle Vorlage für dieses "Lieblingsthema" hat kürzlich Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble geliefert, indem er einmal mehr eine längere Lebensarbeitszeit aufgrund der demografischen Entwicklung gefordert hat. Rente erst mit 70, weil es immer mehr Rentner gibt, die auch noch immer älter werden, folglich die Rentenbeiträge der Arbeitnehmer explodieren würden. Bosbach hält das aufgrund seiner Modellrechnungen für nicht haltbar, somit die Sorge des Finanzministers um die Rentenbeiträge gar nicht für das eigentliche Motiv. Der "Hintergedanke" ziele vielmehr auf die Einsparmöglichkeiten durch eine längere Lebensarbeitszeit im öffentlichen Dienst ab. Dann würde es also nicht eigentlich um den Beitragszahler, sondern die "schwarze Null" gehen.
Natürlich sind wir kein Volk von Mathematikern und Statistikexperten, die alle mögliche Fallen hinter den Zahlen wittern. Völlig hilflos sind wir aber auch nicht, meint Bosbach: "Das Hinterfragen ist etwas Ehrfürchtiges", betont er und macht Mut zu gesunder Skepsis. "Woher kommt die Zahl, welches Interesse steckt dahinter. Warum erzählt mir denn das der Herr Gabriel oder die Frau Merkel? Was wollen die erreichen? Und schon kann man die Richtung, in der eine Zahl nicht ganz richtig ist, feststellen." Für die konkrete Praxis empfiehlt Bosbach, sich nicht mit einer absoluten oder einer Prozentzahl einfach so zufrieden zu geben: "Lassen Sie sich beides geben und entscheiden Sie selber, was für Sie die wichtigere Größe ist", und ergänzt: "Ohne selber zu denken, fällt man immer rein."
Von Oliver Hilt
Zur Person:
Prof. Dr. Gerd Bosbach, geboren 1953 in Euskirchen, lehrt Statistik, Mathematik und Empirie an der Fachhochschule Koblenz, Standort Remagen. Seine Forschungsschwerpunkte: Statistik-Missbrauch, Arbeitsmarkt- und Bevölkerungsstatistik, Armut und volkswirtschaftliche Aspekte der Gesundheitsfinanzierung. Zunächst promovierte er nach dem Mathematik-Diplom im Bereich Statistik an der Universität zu Köln. Tiefen Einblick in die amtliche Statistik und den Umgang der Politik mit diesen Daten erhielt er im Statistischen Bundesamt, dort vor allem in der Bonner Beratungsstelle, wo er Finanz- und Wirtschaftsministerium und die wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages beriet. Seine Professur erlangte er 1999 und lehrt derzeit am Rhein-Ahr-Campus der Hochschule Koblenz. Im Januar 2011 erschien mit großem medialen Echo sein Buch "Lügen mit Zahlen Wie wir mit Statistiken manipuliert werden", geschrieben mit dem Politologen Jens Jürgen Korff.