Gut, es gibt da diese Bundestagsresolution doch mal ehrlich, was wissen wir sonst über Armenien? Dabei gibt es viel zu entdecken. Eine Geschichte über Jugendliche etwa, die im armenischen Nirgendwo hehre Ziele verfolgen und mit viel Energie Großes für ihr Dorf planen.
Das Taxi hält auf dem Dorfplatz von Karbi, 30 Minuten von Yerevan entfernt. Mein Fahrer schaut etwas unsicher drein: "Sind Sie sicher, dass Sie hier aussteigen wollen?" Gut zwei Dutzend Männer haben unser Auto fest im Blick, während sie unter schattenspendenden Bäumen Würfel über Plastiktische rollen lassen und der gleißenden Mittagshitze zu entgehen versuchen. Ja, ich glaube, hier will ich hin. Auf den Dorfplatz von Karbi, irgendwo im armenischen Nirgendwo. Denn in diesem Nirgendwo ist eigentlich viel mehr los, als es auf den ersten Blick den Anschein hat: Hier hat sich vor zwei Monaten der "Youth Council of the Village Karbi" gegründet. Und die 25 Jungen und Mädchen haben mit ihrem Dorf sehr viel mehr vor als Würfelspielchen.
Da stehen sie etwas unschlüssig und schüchtern vor ihrer Dorfkirche und dem Kriegs-Denkmal: Elya, Sahak, Anush und ihre Freunde. Sie treten vorsichtig näher und dann, nach ein paar einführenden Worten, können sie sich kaum entscheiden, wer eigentlich zuerst reden soll. Das Englisch stolpert ein wenig sperrig aus ihren Mündern, aber jedes Wort und jeder Satz ist verständlich, für alles andere gibt es Google Translate.
Die Dorfverwaltung nennen sie "White House of Karbi"
Vor zwei Monaten haben sie sich gegründet, auf Initiative der Dorfverwaltung, die sie ihr "White House of Karbi" nennen, in Ermangelung passender Vokabeln. Und so wie es in Karbi ein "White House" gibt, so sind auch die Ziele des Jugendclubs ganz groß gedacht und könnten mit den Vereinten Nationen mithalten: Armut bekämpfen, Tourismus fördern und das Potenzial der Gemeinschaft ausschöpfen. Man mag das naiv nennen, doch die Entschlossenheit in Elyas Gesicht spricht eine andere Sprache.
"Wir wollen endlich nicht mehr sagen Helft uns, ihr Menschen aus Europa! Unser Dorf und unser Land haben ihr ganz eigenes Potenzial und das wollen wir jetzt selbst nutzen für die Zukunft von Karbi."
Dieser Spruch prangt seit Kurzem auch auf den T-Shirts, die ein anderes Mitglied des Councils designt hat. Stolz zeigen sie Fotos ihres Gruppen-Outfits, erklären jedes einzelne Element des Logos und dessen Bedeutung. Die T-Shirts sehen professionell aus, damit wollen sie wahrgenommen werden. Einmal mehr mag man das naiv nennen, "Symbolpolitik" ohne weitreichende Auswirkungen...
Doch dann berichten Elya und Anush, dass sie bei ihrer ersten Spendensammlung 45.000 armenische Dram eingenommen haben, etwa 90 Euro. In Armenien ist das nicht viel, aber auch nicht wenig Geld. Ein guter Start. Denn vor ein paar Wochen haben die Jugendlichen sich das Ziel gesetzt, die Talente ihres Dorfes nutzen zu wollen. Sie fragten einheimische Maler und Künstler und ließen diese gemeinsam mit Kindern aus Karbi Bilder malen, die sie an Touristen verkauften.
Resultat der Spendenaktion ist unter anderem ein Shoppingtrip: Mit dem Geld gehen sie einkaufen, für den Schulanfang in Karbi und für die Kinder der fünf ärmsten Familien des Dorfes. Am ersten September brauchen die Schüler weiße Hemden und neue Schuhe.
Karbi hat etwa 4.000 Bewohner, eine alte Kirche und ganz viele Apfelbäume. In einem Land, das vor allem auf Landwirtschaft setzt, scheint jedes Dorf auf eine Frucht oder ein Gemüse ganz besonders stolz zu sein in Karbi sind es die Äpfel. Und Karbi ist schön, da sind sich die Jugendlichen einig. Keiner möchte wegziehen, nach Yerevan, wo sie Pädagogik und Orientalistik studiert haben und das nur eine halbe Stunde entfernt liegt.
Keiner möchte aus Karbi wegziehen
Elya möchte hier bleiben, wo sie geboren wurde: Wenn sie in rasender Geschwindigkeit aufzählt, wann die Kirche gebaut wurde, wie viele Dorfbewohner hier im Krieg starben und was welche Inschrift in irgendeinem Mäuerchen bedeutet, dann glänzen ihre Augen. Geschichte, das interessiert sie, die kann sie sich einfach gut merken, sagt sie dann fast entschuldigend. Und glaubt ganz fest daran, dass ihr Dorf so viel Geschichte birgt, dass auch Besucher aus Deutschland, Frankreich und den USA hier vorbeischauen wollen. Dann will sie so etwas wie ein "Bed and Breakfast" in Karbi anbieten. Ein Poster hat sie mit dem Youth Council bereits an die Kirche gehängt alle geschichtlichen Fakten reihten sich dort aneinander. Karbi muss die Menschen einfach interessieren!
Es ist dieser feste, naive Glaube an ihr Dorf, der ansteckt. Vielleicht bald auch Touristen aus Frankreich, Deutschland und den USA.
Bei wenigen tausend Bewohnern sind die Verwaltungswege kurz, auch die Liste mit den ärmsten Familien war wohl schnell erstellt, wie auch immer man in Karbi "Armut" definiert und erhebt. Datenschutz scheint eher nebensächlich, auf die Würde der Dorfbewohner passt Elya dennoch auf: Wir sind mit zwei Kindern unterwegs aber beide Jungen darf ich nicht von vorne fotografieren. Das sei schließlich eine ethische Frage, erklärt mir die 19-Jährige mit strengem Blick. Ich stimme ihr zu.
Jetzt sitzen wir also mit zwei gestriegelten Jungs im Alter von sieben und elf Jahren in einem Kleinbus auf dem Weg in den Nachbarort zum Hemdenladen, und eines wird ganz deutlich: Der Youth Council verwaltet trotz großer Ambitionen zwar keine Millionenbeträge, aber er legt einfach los. Man nehme ambitionierte Jugendliche, bedürftige Dorfbewohner und einen Bus, und ab gehts. Die Vereinten Nationen sind wesentlich träger.
Arturs schwarze Haare glänzen unter Tonnen von Haargel, das wohl seine Eltern ihm zur Feier des Tages aufgetragen haben. Der Scheitel sitzt perfekt. Davit, ein paar Jahre jünger, scheint der Aktion noch ein wenig zu misstrauen: Mit skeptisch eingestützten Armen steht er im ersten Geschäft und beobachtet die sieben aufgescheuchten jungen Leute, die Kleiderstangen voller Hemden und Regale voller Kinderschuhe durchsuchen.
Davit hat mittlerweile ein blütenweißes Hemd an, die Jugendlichen scharen sich um ihn wie um einen Kinderfilmstar und machen "Aaaah" und "Ooooh", während er schüchtern für die Kamera posiert. Jetzt ist ein Jackett dran, das Anush in einem anderen Laden entdeckt hat. Es spannt über Davits Brust, richtig wohl scheint er sich nicht zu fühlen. Rechts, links, oben, unten: Die großen braunen Augen zucken durch die Gegend, zu viel Glitzer, zu viel Neonlicht umgibt den kleinen Jungen. Einmal mehr stemmt er die Arme skeptisch in die Hüfte, blickt etwas überfordert auf den Zirkus von sieben lautstark diskutierenden Einkäufern um ihn herum.
Die Jungs sind irgendwann sichtlich erschöpft, was jedoch dem Elan der Begleiter keinen Abbruch tut. Man mag das überdimensioniert nennen, sieben junge Menschen und zwei Jungs beim Einkaufen. Das ist ineffizient, unnötig, ja vielleicht sogar einschüchternd. Als die Gruppe jedoch am Ende des Einkaufs vor dem Laden für ein Foto posiert, wirkt nichts davon überdimensioniert. Mich strahlen neun stolze Gesichter an. Selbst wenn es letztendlich "nur" ein paar Hemden und Schuhe für die armen Kinder von Karbi waren es hat sich etwas bewegt.
Neun strahlende Gesichter
Auf dem Weg zurück in der Abendsonne sitzen Artur und Davit nebeneinander auf der Rückbank, Artur hat sein neues T-Shirt gleich angelassen. Sie stecken die Köpfe zusammen, flüstern miteinander. "Hast du meine neuen Schuhe gesehen?" "Warte nur, bis Mama mich in dem weißen Hemd sieht!" "Ich verstehe den ganzen Trubel um uns irgendwie nicht so richtig." Man kann sich nur ausmalen, was die Zwei sich wohl zuraunen. Doch so überfordert sie in diesem Moment auch wirken mögen, nichts kann die Freude verdecken, die Anush und Hana neben ihnen auf der Rückbank gerade ausstrahlen. Der Youth Council war wieder unterwegs, für Karbi, das Dorf mit den berühmten Äpfeln.
Als ich wieder abfahre aus Karbi, blicke ich noch einmal auf den Dorfplatz: Noch immer rollen hier die Würfel, schwitzen dicke alte und junge Männer in der Sonne. Ich bin froh, dass es hier Anush, Hana und Elya und ihren Youth Council gibt. Und glaube ganz fest daran, dass Davit jetzt im neuen Hemd, die Arme in die Hüfte gestemmt, vor dem Spiegel steht und skeptisch grinst.
Von Konstanze Nastarowitz