Diskussionen um die Europäische Union sind allgegenwärtig. Doch was verbirgt sich eigentlich hinter dem Gefüge aus 28 Ländern? Wie ist es aufgebaut und was hat der einfache Bürger von der EU? Die Europäische Akademie Otzenhausen kennt die Antworten und zieht damit junge Menschen aus allen Ländern der Welt an.
Unter anderen Umständen hätten sie sich nicht mal angeschaut. Und wenn doch, wäre die Situation vermutlich ziemlich schnell eskaliert. Doch hier, in der Europäischen Akademie Otzenhausen, läuft es anders. Die mutmaßliche Feindschaft zwischen Russland und Ukraine löst sich in Wohlgefallen auf. Junge Besucher aus den unterschiedlichen Ländern teilen sich während der Seminare eine Schulbank, verbringen miteinander die Pausen und diskutieren sogar nach dem Ende der Veranstaltung über die heißen Themen rund um Europa. Ist die Europäische Union überhaupt noch zukunftsfähig und wenn ja, welche Rolle soll sie einnehmen?
Solche Gespräche entlocken Marco Wölflinger ein kleines Lächeln. Schließlich sind sie der Beweis dafür, dass seine Arbeit nicht wirkungslos verpufft. "Wenn es uns gelingt, dass junge Menschen mit mehr Fragen und Bewusstseinsbildung hier weggehen, als sie mitgebracht haben, so haben wir viel erreicht", erklärt der Geschäftsführer der Europäischen Akademie Otzenhausen.
Annäherung durch Diskussion
Das vielfältige Angebot der Bildungs- und Begegnungsstätte mit dem Themenschwerpunkt Europa richtet sich natürlich nicht nur an ehemalige Balkanländer. "Unser Programm ist eine Mischung aus Seminaren mit sehr lebenspraktischen Bezügen, Stichwort Saar-Lor-Lux Raum, und Formaten, die einen akademisch geprägten Inhalt haben", listet Wölflinger auf. "Letztgenannte sind internationale Studienprogramme, in denen junge Menschen aus allen Kontinenten nach Otzenhausen kommen".
Neben der engen Zusammenarbeit mit fast allen EU-Ländern finden auch junge Menschen aus Südamerika, Asien, den USA und den nordafrikanischen Maghreb-Ländern (Marokko, Tunesien, Algerien) den Weg in den idyllischen Ortsteil der Gemeinde Nonnweiler, um die Strukturen der Europäischen Union besser kennen zu lernen, Meinungen auszutauschen und gemeinsam zu diskutieren. Die Dauer der Seminare ist variabel. Manche erschöpfen sich in einer Tagesveranstaltung, andere dauern bis zu 14 Tage. Rund 10.000 Gäste nehmen jährlich daran teil. Dazu kommen 4.000 Seminarteilnehmer.
"Im Kern unserer Bildungsarbeit steht die Befähigung (junger) Menschen zu Mündigkeit und zu politischer Partizipation", erläutert Ressort- und Studienleiterin Stéphanie Bruel. "Das heißt auch ein Bewusstsein für die Verantwortung, die wir in unserem nahen Umfeld, in unserem Land, aber auch global tragen, zu entwickeln."
Seit Jahren kümmert sich die gebürtige Französin um die Bildungsinhalte, überkonfessionell und überparteilich, und konzipiert gemeinsam mit ihren Kollegen in der Studienleitung das Programm der Bildungsstätte. Stets mit dem Anspruch, die Teilnehmer für Europa zu sensibilisieren und ein Verständnis für das europäische Konstrukt zu schaffen. Dazu bedient sich Bruel der ganzen Bandbreite der Europapolitik, angefangen von den Meilensteinen des europäischen Integrationsprozesses, über die Entstehung und die Auswirkung der Finanzkrise aus dem Jahr 2008 bis hin zu den großen aktuellen europäischen Richtlinien, beispielsweise für Dienstleistungs- und Warenverkehr.
"Wir sorgen dafür, dass konstruktive Debatten entstehen", erklärt Bruel ihre Ansätze. "Dafür müssen wir zwei wichtige Aspekte berücksichtigen: Der eine ist das Kontroversitätsgebot, der andere das Überwältigungsverbot." Was etwas akademisch klingt, meint vor allem eine Debattenkultur, die bei aller Unterschiedlichkeit auf gegenseitiges Verstehen angelegt ist. Seinen Ursprung findet dieser Leitgedanke in der Historie der Akademie. Im Jahre 1954 von Arno Krause gegründet, stellte sich die Akademie der Aufgabe, gegen politische Instrumentalisierung vorzugehen und den Austausch zwischen Frankreich und Deutschland zu fördern, die alte "Erbfeindschaft" nach den Weltkriegskatastrophen zu überwinden.
Zusammenarbeit mit der Bundeswehr
"In den Jahren ist eine Akademie gewachsen, die ihren thematischen Bogen global spannt", stellt Wölflinger fest. Geblieben ist die Achse Deutschland-Frankreich als Kernstück, um das sich das Bildungsangebot entwickelt. Dabei geht es nicht ausschließlich um Politik. "Wir bieten Bildungsformate, die nicht nur den politischen Kontext ansprechen, sondern weil es untrennbar geworden ist auch den Bereich der Nachhaltigkeit", betont Wölflinger. Rund drei Viertel der gesamten Arbeit widmet die Europäische Akademie Otzenhausen Jugendlichen zwischen 16 und 30 Jahren. Der andere Teil gehört der Erwachsenenbildung. Dafür veranstaltet die Akademie Symposien und Fachkolloquien sowohl in Deutschland als auch in europäischen und internationalen Kooperationsländern. Ein weiteres kennzeichnendes Standbein der Akademie ist die enge Zusammenarbeit mit der Bundeswehr. "Es geht um staatsbürgerliche Kunde, die bei der Bundeswehr ein tragendes Thema ist", erklärt Bruel. Als einer der bundesweit insgesamt vierzig Träger übernimmt auch die Europäische Akademie Otzenhausen den Auftrag der Bundewehr, ihre Angehörigen politisch zu schulen. Die Themen sind nicht unmittelbar bezogen auf den konkreten Einsatz der Bundeswehrangehörigen, setzen sich aber mit den damit verbundenen grundsätzlichen Problematiken auseinander. "Ein mögliches Beispiel könnte sein: Welche Rolle soll die Europäische Union weltweit haben?", erklärt Bruel.
In den vergangenen zwei Jahren kamen viele neue Inhalte hinzu. Themenfelder wie Flucht und Migration rückten immer weiter in den Vordergrund. So wie auch Integration, Assimilation, Akkulturation, Werte und Identität, aber auch der Anstieg von Populismus und Re-Nationalisierungstendenzen. Vor allem letzteres bereitet Wölflinger Kopfzerbrechen. "Für uns hat sich bis vor zwei, drei Jahren die Problematik des Auseinanderdriftens in Europa in dieser Schärfe nicht gestellt. Es war unvorstellbar, eine Diskussion über Bestand der Europäischen Union, so wie aktuell geführt, zu erleben", bedauert der Geschäftsführer.
Den Schlüssel, die Europäische Krise zu bewältigen, sehen Wölflinger und Bruel im stetigen Austausch. "Unser Leitspruch lautet: Europa entsteht durch Begegnungen", betont die Studienleiterin. Diese Wirkung erleben die Teilnehmer selbst. Nach einer zaghaften Begrüßung am Ankunftstag wächst die Seminargruppe in kürzester Zeit zu einem Gefüge zusammen. Sobald die Vorurteile fallen, nähern sich die jungen Menschen einander an, beginnen einander zu verstehen. "Wir verfolgen den Ansatz, dass Europa nicht nur aus wirtschaftlichen Interessen besteht, sondern sich auch als politisches Projekt versteht, in dem Wissenschaft, Bildung, Kultur den Lebensraum von 500 Millionen Menschen prägen", so Wölflinger. "In der medialen Diskussion kommen die letzten Aspekte leider zu kurz."
Julia Indenbaum
Info
Tag der offenen Tür am Pfingstmontag, 5. Juni ab 11.00 Uhr
Europahausstraße 35, 66620 Nonnweiler
Infos unter: www.eao-otzenhausen.de