Die S-Bahn Berlin GmbH und die Berliner Stadtmission beschäftigen zwei Einzelfallhelfer, die sich um die Obdachlosen in den Zügen kümmern. Eine Gesellschaft müsse sich nicht zuletzt an ihrem Umgang mit den Schwächsten messen lassen, sagen die Initiatoren.
Die Fahrgäste der S-Bahn haben eine klare Haltung: Es muss etwas passieren gegen das Leid von Obdachlosen in den Zügen, die sich und die Gesellschaft aufgegeben haben." Deutliche Worte von Ortrud Wohlwend, Sprecherin der Berliner Stadtmission. Und Motivation für den Einsatz von zwei mobilen Einzelfallhelfern, die seit vier Monaten in den Zügen des Berliner S-Bahn-Netzes im Einsatz sind: Wilhelm Nadolny und Sascha Sträßer sind täglich in den Zügen unterwegs, um obdachlose Fahrgäste anzusprechen und ihnen Hilfe anzubieten.
Dabei sind diese häufig gar nicht so einfach auszumachen. "Ein Großteil der Obdachlosen ist unsichtbar", erklärt Jörg Pruss, Leiter des Securitymanagements der S-Bahn Berlin. "Nur vereinzelt betteln und belästigen sie andere Fahrgäste. Allenfalls am Geruch fallen sie auf." Ein Platzverweis und eine Anzeige gegen die Treber bringen erfahrungsgemäß keinen Erfolg. Bei einer kürzlich durchgeführten Kundenbefragung plädierten die Fahrgäste für eine wirkungsvolle Hilfe für Obdachlose, die in den Zügen anzutreffen sind. Deshalb hat die S-Bahn das Projekt mit der Berliner Stadtmission gestartet. Security-Mitarbeiter geben den Einzelfallhelfern Hinweise auf Bedürftige, die in Zügen und auf Bahnsteigen angetroffen wurden. Fahrgäste können Hinweise an die Stadtmission geben.
Die S-Bahn Berlin GmbH übernimmt 75 Prozent der Kosten für das neue Projekt und ergänzt damit die Arbeit der Einzelfallhelfer, die bereits seit vier Jahren in und um die Berliner Bahnhöfe unterwegs sind. Das war bisher nur aus Spenden finanziert worden, unter anderem durch die Deutsche Bahn Stiftung und der BVG. Der Einsatz von Nadolny und Sträßer ist vonseiten der S-Bahn zunächst nur für ein Jahr vorgesehen. "Doch wir benötigen auf jeden Fall einen längeren Zeitraum, um ein Fazit zu ziehen und klar sagen zu können, welchen Erfolg das Projekt hatte", betont Dieter Puhl, Leiter der Bahnhofsmission am Zoo. Etwa 65.000 Euro sind erst mal veranschlagt.
Sascha Sträßer sieht seine Aufgabe nicht als klassisches Streetworker-Projekt. "Wir arbeiten nur mit den fünf Prozent der Obdachlosen, die jedes Lebensziel verloren haben und teilweise nur noch auf das Sterben warten." Das seien die Personen mit psychischen Erkrankungen oder in verwahrlostem Zustand. Es dauere häufig Monate, bis die Einzelfallhelfer Vertrauen und eine belastbare Verbindung zu den Menschen herstellen könnten. "Wir haben die Zeit, uns mit ihnen zu beschäftigen", sagt Sträßer. Das bedeutet, behutsam den Kontakt mit den Betroffenen aufzubauen, ihn zu pflegen und bei der Organisation einer Unterkunft zu helfen. "Ich versuche, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und lade sie ein, ohne jeglichen Zwang", erklärt Sträßer sein Vorgehen. Das klappt häufig am Anfang nicht, zu resigniert sind die Wohnungslosen.
Behutsam Kontakt aufbauen und Hilfe anbieten
Auch wenn sich manche bereits ihrem Schicksal ergeben haben und hoffnungslos sind, die beiden Mitarbeiter sind es nicht. Auch schwere Krankheiten der Betroffenen, die häufig jahrelang nicht behandelt wurden, entmutigen sie nicht. "Selbst Ärzte, die die Betroffenen untersuchen, sind teilweise über den körperlichen Zustand der Menschen schockiert", schildert Sträßer so manche Begegnung. Aber: "Niemand ist hoffnungslos, wir versuchen, den Menschen ein Ziel zu geben." Das strengt an. Ein halbstündiges Gespräch ist nach Sträßers Empfinden häufig genauso anstrengend wie auf dem Bau zu arbeiten. Bei Bedürftigen, die nicht der deutschen Sprache mächtig sind, kommunizieren die beiden mit Händen und Füßen und vermitteln bei Bedarf Dolmetscher. Sträßer und Nadolny sind in den Zügen und auf den Bahnsteigen im Einsatz auf allen S-Bahnlinien sowie schwerpunktmäßig am Bahnhof Zoo, dem Hauptbahnhof und am S-Bahnhof Neukölln, wo nach ihren Angaben der Anteil an Heroinsüchtigen besonders hoch ist.
Das Resultat der Arbeit während der vergangenen vier Monate: "Wir konnten mit 16 Menschen ins Gespräch kommen, acht von ihnen haben unser Hilfsangebot angenommen", sagt Nadolny. Er schätzt die Arbeit im Projekt als "großes Privileg: mit den Menschen ins Gespräch kommen zu können, ohne Druck auszuüben." Auf Wunsch begleiten die Helfer die Obdachlosen zum Jobcenter oder Sozialamt. Und sie freuen sich, einen Fall schildern zu können, wo sie eine extrem verwahrloste Frau bildlich an die Hand nahmen und zu einer Notunterkunft brachten: "Kommen sie mit, wir machen das jetzt mal!" Zwei Monate später erschien sie bei ihnen mit einem Blumenstrauß. Ortrud Wohlwend von der Stadtmission fügt hinzu: "Für uns ist es bereits ein großer Erfolg, wenn ein Hilfsbedürftiger mitkommt, sich im Hygienecenter reinigen kann, seine Wäsche wäscht und Haar- und Fußpflege erhält."
Der Bedarf ist da. Etwa 150 bis 200 Betroffene sind schätzungsweise in einem sehr kritischen gesundheitlichen Zustand und warten zuweilen förmlich auf den Tod. Dieter Pohl, Leiter der Bahnhofsmission, schätzt, dass etwa 20 Prozent der Betroffenen gar nicht erreicht werden können.
Schon ein Lächeln vermittelt Akzeptanz
Wohlwend freut sich über das Engagement. "Auch der S-Bahn-Chef Peter Bucher und ich nutzen täglich die S-Bahn und sehen unmittelbar die Bedürftigkeit der Menschen in den Zügen", sagt sie. Und unterstreicht die gesellschaftspolitische Relevanz des Projektes: "Eine Gesellschaft, die das Schicksal der Schwächsten ignoriert, gibt sich selbst auf. Wir müssen uns daran messen lassen, wie wir mit Obdachlosen umgehen."
Dies sei auch ein Gebot der christlichen Nächstenliebe Menschen aus dem gesellschaftlichen Aus herauszuführen und wieder sichtbar zu machen. Damit dies schon im Kleinen geschieht, könne jeder seinen Beitrag leisten: "Schenken Sie einem Obdachlosen einfach mal ein Lächeln, das verschafft bereits ein Gefühl von Akzeptanz."
Von Frank Müller