Für eine Wechselstimmung gibt es derzeit keine Gründe, meint der Politologe Gero Neugebauer. Auch, weil die SPD Fehler gemacht hat, die Grünen keine klaren Botschaften haben und die Linke unpopuläre Ziele vertritt.
Herr Neugebauer, es sieht derzeit in den Umfragen nicht gut für die SPD aus. Was muss die Partei tun, um aus der Defensive zu kommen?
Sie muss offensiv Nachfrage nach ihren Positionen erzeugen, zeigen, worin deren Bedeutung sowohl für den Alltag als auch die Zukunft der Menschen liegen. Die SPD muss einen personalisierten Wahlkampf vermeiden und weiterhin ihren Machtanspruch vertreten.
Was haben Martin Schulz und die SPD seit dem Frühjahr falsch gemacht?
Subjektiv ist Schulz wenig vorzuwerfen, denn für die von den Kampagnenmachern gemachten (Anfänger-) Fehler und Unterlassungen trägt er keine persönliche Verantwortung. Falsch war es allerdings, dass Schulz nach der Wahl im Saarland die FDP als potenziellen Koalitionspartner ins Spiel gebracht hat. Falsch war es, sich den Ansprüchen der Landesverbände der SPD zu beugen, nämlich in deren Landtagswahlkämpfen, vor allem in Nordrhein-Westfalen, das ja noch dazu sein Heimatland ist, nicht prominent aufzutreten. Und falsch war es, selbst nicht klar genug gemacht zu haben, warum seine programmatischen Ankündigungen inhaltlich noch nicht vorgestellt werden konnten.
Ist Merkels abwartende Strategie tatsächlich gefährlich? Martin Schulz sprach ja von einem Anschlag auf die Demokratie ...
Wenn man erstens der Auffassung ist, dass eine hohe Wahlbeteiligung ein wichtiger Beitrag zur demokratischen Legitimation des Bundestages ist, und wenn man zweitens der Auffassung ist, dass die von Frau Merkel bevorzugte Strategie der asymmetrischen Demobilisierung des Wahlvolkes durch den Verzicht auf Auseinandersetzungen um Alternativen dazu führt, dass nicht kontrovers über wichtige politische Themen diskutiert wird, dann ist eine solche Aussage vom Anschlag auf die Demokratie im Kontext eines Wahlkampfes denkbar und legitim. Sie hat ja auch zumindest kurzfristig für Aufmerksamkeit, wenn auch aus taktischen Gründen kaum für Gegenwehr bei der Union gesorgt.
Es ist zurzeit viel von der fehlenden Wechselstimmung die Rede. Liegt das vielleicht an zu wenigen frischen Gesichtern?
Wechselstimmungen werden in erster Linie durch massive Unzufriedenheit mit der Arbeit der aktuellen Regierung insgesamt oder einzelner Regierungsparteien, weniger durch Überdruss an Personen, erzeugt. Diese Faktoren sind zurzeit nicht gegeben.
Was könnte es noch an Überraschungen geben?
Da mangelt es mir etwas an Fantasie: Wer wird noch irgendwie mit der Diesel-Affäre verknüpft? Kündigt Erdogan das Flüchtlingsabkommen? Erklärt die EZB ihren Zahlungsunwillen?
Könnten auch die aktuelle Regierungskrise und die anstehende Neuwahl in Niedersachsen Einfluss nehmen?
Angesichts der Probleme, die bei der Bundestagswahl zu entscheiden sind, ist das ein Klacks. Die Kategorie "Pleiten, Pech und Pannen" kann auf Parteien zurückfallen, ja aber hier sind es de facto die Grünen in Niedersachsen, die das Problem ausgebrütet haben.
Auch die CDU muss sich ja fragen lassen, ob sie der Abgeordneten etwas für den Übertritt geboten haben. Letztendlich wird es also auf die Interpretation der Ereignisse ankommen, ob diese Affäre auch die SPD im Bund trifft.
Ist die Strategie der SPD richtig, ausschließlich auf die eigene Stärke zu setzen?
Ja, sonst kann sie nicht aus einer Position selbst des "zweiten Siegers" den Anspruch auf Führung einer Koalition erheben.
Aber will der Wähler nicht auch eine Machtoption sehen?
Ja, das ist schon richtig. Die Wähler wollen mit ihrer Wahl etwas in ihrem Sinne bewirken. Daher ist es schwierig für die SPD, wenn sie keine glaubhafte Wechseloption anbieten kann. Auf der anderen Seite muss Schulz auf die eigene Stärke setzen. Vielleicht schafft er in den verbleibenden Wochen ja doch noch die Wende.
Warum dringen die Grünen mit ihren Botschaften nicht durch?
Wer verkündet welche Botschaften? In Hinsicht auf potenzielle Koalitionen? In Hinsicht auf Themen? Zunächst einmal müssten die Botschaften deutlich genannt werden. Klimapolitik ist weiterhin sehr wichtig, wurde bislang aber nicht energisch genug auf die Agenda gesetzt. Sozialpolitik ist wichtig, wird aber nicht ausreichend genug als grünes Thema registriert. Umweltpolitik bleibt grüne Botschaft qua Genese, wird aber nicht mehr als Monopolthema der Grünen gesehen. Das wird auch nicht durch das Auftreten grüner Veteranen kompensiert.
Leidet die Glaubwürdigkeit der Grünen auch darunter, dass sie sich in Richtung der Konservativen geöffnet haben?
Führende Politiker der Grünen stehen heute für schwarz-grüne Bündnisse: Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg, Robert Habeck in Schleswig-Holstein, Tarek Al-Wazir in Hessen. Die Führung im Bund genau wie die aktuellen Spitzenkandidaten agieren in dieser Frage indifferent. Ich sehe daher ein Mobilisierungsproblem bei den Grünen. Denn die Basis auf Kreisebene und Ortsebene ist weniger offen für schwarz-grüne Bündnisse. Die lassen sich von einem Wahlkampf, der sich so eine Option offenhält, nicht mitreißen.
Warum kann die Linke angesichts der Schwäche von SPD und Grünen nicht profitieren?
Die Linke setzt bei Gerechtigkeit auf Verteilungsgerechtigkeit, eine Position, für die es nicht genügend Unterstützung gibt. Und sie ist ökologisch nicht ausgewiesen, weshalb sie da nicht von den Grünen erben kann.
Wie erklären Sie sich den vermutlichen Wiederaufstieg der FDP?
Sie hat ein gutes Marketingkonzept, wenngleich eine Person mit der Marke gleichgesetzt wird, was immer auch ein Risiko ist. Und sie propagiert offensiv ein modernes Thema wie Digitalisierung und suggeriert Stärke. Sie profitiert von der Schwäche der Union im Bereich marktwirtschaftlich orientierte Politik, von der geringen Attraktivität der AfD sowie von taktischem Denken in Bezug auf einen Koalitionswechsel zu Schwarz-Gelb statt Schwarz-Grün.
Wie sollten die anderen Parteien mit der AfD umgehen?
Sie sollten sie offensiv angehen und sonst oder am besten überhaupt rechts liegen lassen.
Interview: Frank Behrens
Zur Person:
Gero Neugebauer, Jahrgang 1941, forscht am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin zum Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, speziell in den neuen Bundesländern. Er befasst sich insbesondere mit der SPD und der Linken sowie deren Vorgänger-Partei PDS.
POLITIK
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