Aus Sicht der Hanseaten ist die Bilanz von Olaf Scholz ansehnlich. Sein Werben für den G20-Gipfel und seine halbherzige Entschuldigung nach den Ereignissen könnten den Wind jedoch drehen.
Noch vor einigen Wochen durfte Olaf Scholz träumen. Hamburgs Erster Bürgermeister hatte eigentlich alles, was sich ein ehrgeiziger Landespolitiker nur wünschen kann. Die Beliebtheitswerte des 59-Jährigen waren bestens. Die mit den Grünen regierende SPD lag in der Hansestadt scheinbar uneinholbar vor der bundesweit klar dominierenden CDU. Die Zufriedenheit der Bürger mit der Politik von Rot-Grün war ausgesprochen groß. Gute Aussichten also, dass die roten Hanseaten bei der Bundestagswahl im September ihr erfreuliches Ergebnis von 2013 trotz der bundesweiten SPD-Popularitäts-Delle wiederholen könnten.
Doch dann kam der von Scholz intensiv beworbene G20-Gipfel, und statt der werbewirksamen Bilder von der "weltoffenen" Hafenstadt Hamburg flimmerten Chaos-Bilder von marodierenden Extremisten und brennenden Barrikaden weltweit über die TV-Bildschirme. Und kaum war wieder Ruhe eingekehrt an Alster und Elbe, tötete der islamische Migrant Ahmed A. im Arbeiterviertel Barmbek einen 50-jährigen Deutschen und verletzte fünf Passanten vor einem Supermarkt. Die zweitgrößte Stadt Deutschlands, die viele Hanseaten gern als "die schönste Stadt der Welt" lobpreisen, machte auf einmal hässliche Schlagzeilen. Diese könnten das erhoffte gute Ergebnis am 24. September gefährden. Eine Wahlschlappe auch in Hamburg wäre aber ein weiterer politischer Sargnagel für die Ambitionen von SPD-Chef Martin Schulz.
Neben dem traditionell "roten" Bremen war Hamburg bei den Bundestagswahlen 2013 das einzige Bundesland, in dem die SPD eine Mehrheit bei den Zweitstimmen erzielen konnte. Zwar lag die Landespartei mit 31,4 Prozent nur 0,3 Punkte vor der CDU, aber immerhin hatte die Hamburger Union vier Jahre zuvor die SPD bei den Zweitstimmen erstmals ganz knapp abgehängt.
Schon bei der vorgezogenen Bürgerschaftswahl 2011 war dem wegen seiner spröden Sachlichkeit als "Scholzomat" bespöttelten SPD-Mann mit 48,4 Prozent ein überragender Sieg über die örtliche Union (21,9 Prozent) gelungen. Die stürzte nach dem von vielen Gerüchten begleiteten Rücktritt Ole von Beusts brutal ab. Die SPD konnte nun vier Jahre allein regieren. Auch bei der Bürgerschaftswahl 2015 kam sie wieder dicht an die absolute Mehrheit heran und hamsterte drei Mal so viele Stimmen ein wie die CDU, die in Hamburg nach Ole von Beust einfach keinen publikumswirksamen Kandidaten und kein politisches Konzept fand. Doch die Mehrheit für die Scholz-SPD war weg, es kam wieder zu Rot-Grün.
Mit den Grünen lief es bis zu G20 gut für Scholz, der bei allen wichtigen Themen ein rasantes Tempo vorlegte. So forcierte er mit seinen Senatoren den unter der CDU lange vernachlässigten Straßenbau in der Stadt und setzte sich lange vor Beginn der Flüchtlingswelle im öffentlichen Wohnungsbau in Hamburg ehrgeizige Ziele. 6.000 Wohnungen sollten pro Jahr gebaut werden, davon ein Drittel staatlich gefördert.
Inzwischen hat man die Latte mit geplanten 10.000 Wohneinheiten pro Jahr noch höher gelegt. Kaum ein Fleckchen städtischen Grüns, das zurzeit brach liegt. Hamburgs Bevölkerung wächst. Doch während die Job-Situation in der Elbe-Metropole erträglich ist, herrscht nach wie vor ein deutlicher Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Gleichzeitig scheint der Immobilienmarkt außer Kontrolle zu geraten. Hamburg liegt bei den Mietsteigerungen inzwischen hinter dem horrend teuren München und Berlin an dritter Stelle. Der starke Zuzug der vergangenen Jahre, der Hamburgs Einwohnerzahl in kommenden Jahrzehnten um rund 200.000 auf zwei Millionen treiben soll, könnte so ins Stocken geraten, befürchtet man im Hamburger Rathaus.
Natürlich hat auch die stark steigende Zahl von Flüchtlingsunterkünften im Stadtgebiet nicht unbedingt geholfen, die Zufriedenheit der Hanseaten mit Scholz und Co. zu steigern. In einigen einkommensschwächeren Vierteln ist der Unmut deutlich spürbar, dass ausgerechnet hier größere Flüchtlingsansiedelungen geplant sind, während in den wohlhabenden Stadtvierteln keine oder sehr wenige Wohnungen für Asylsuchende eingerichtet werden.
Dennoch: Insgesamt ist die Bilanz von Olaf Scholz und seinen Senatoren in den Augen der Öffentlichkeit überwiegend positiv. Immerhin hat Scholz es mit Hilfe der mittlerweile verstorbenen Kultursenatorin Barbara Kisseler geschafft, die Elbphilharmonie, das glitzernde Millionengrab am Hamburger Hafen, endlich fertig zu bauen. Sie soll mit anderen Maßnahmen Hamburgs schlechten Ruf als kulturlose Stadt der "Pfeffersäcke" nachhaltig verändern. Festivals, Kongresse und Tourismus sollen Hamburgs Struktur angesichts einer schwächelnden Hafenindustrie langfristig stabil halten.
Sehr viel Geld steckt der Senat in die Modernisierung des öffentlichen Nahverkehrs. Dass die zahllosen Baumaßnahmen den autofahrenden Bürgern das Leben schwer machen, nimmt die Stadt ebenso in Kauf wie die nicht seltene Totalblockade der Autobahn A7 für den von den Grünen mit Leidenschaft betriebenen Bau eines "Deckels" über der Fahrbahn, gegen dessen Sinnhaftigkeit sich Bürgerinitiativen jahrelang sträubten.
Im Alleingang Gipfel nach Hamburg geholt
Angesichts der insgesamt positiven Grundstimmung dürften Scholz und die SPD auch bei der nächsten Bürgerschaftswahl 2019 wieder vor der profillosen CDU liegen. Doch die "Chaos-Tage" während des von weiten Teilen der Bevölkerung strikt abgelehnten G-20 Gipfels könnten die Stimmung für die kommende Bundestagswahl zu Gunsten der CDU gedreht haben. Auch wenn Hamburgs SPD in dieser Frage zumindest nach außen uneingeschränkt hinter Olaf Scholz steht: Die Tatsache, dass Scholz im Alleingang dieses wie erwartet ergebnisarme Treffen an die Elbe holte, weil die Kanzlerin dies so wünschte, wird ihm von Kritikern übelgenommen. Noch stärker dürfte zählen, dass Scholz, Innensenator Andy Grote und der schon zuvor umstrittene Polizei-Einsatzleiter Hartmut Dubbe die Lage falsch einschätzten und die Einsatzkräfte der Polizei über mehrere Stunden die Kontrolle über das Schanzenviertel verloren, obwohl die Gewaltbereitschaft des "Schwarzen Blocks" allgemein bekannt war.
Und obwohl Merkel und Kanzleramtsminister Peter Altmaier den Bürgermeister öffentlich in Schutz nahmen, fordert die örtliche CDU unter Oppositionsführer André Trepoll seither immer wieder den Rücktritt des Ersten Bürgermeisters. Der lehnte diesen Schritt jedoch schon Stunden nach den Ausschreitungen im Schanzenviertel ab: "Nein, diesen Triumph werde ich den gewalttätigen Extremisten nicht gönnen." Allerdings gab Scholz zu: "Ich schäme mich für das, was da passierte." Auch bei einer langen Erklärung in der Bürgerschaft gab es kein Wort zu den Rücktrittsforderungen, die bundesweit nach Meinungsumfragen allerdings von einer Mehrheit abgelehnt wurden. Dafür quetschte der deutlich angeschlagen wirkende Erste Hamburger eine eher mühsam wirkende Entschuldigung über die Lippen, nur um gleichzeitig die Entscheidung für G20 in der Stadt erneut zu rechtfertigen.
Repräsentative Umfragen zum Thema G20 in Hamburg wurden bisher nicht veröffentlicht. "Dafür haben wir einfach kein Geld", räumte der Hamburger SPD-Bundestagsabgeordnete Niels Annen auf Anfrage ein. Der außenpolitische Sprecher seiner Partei, der zurzeit unermüdlich Tür-zu-Tür-Wahlkampf im Hamburger Bezirk Eimsbüttel macht, hofft, dass der Unmut in der Bevölkerung bis zum Wahltag verflogen sein könnte. "Bei meinen vielen Hausbesuchen bin ich nur einmal auf G20 angesprochen worden". Und Scholzens Entscheidung zu Gunsten von G20 verteidigt er wie so viele seiner Genossen mit den Worten: "Was hätte er denn tun können? Dies war eine Veranstaltung Merkels, und die hätte notfalls selbst die Messehallen für die Konferenz mieten können!" Ob die Wähler dies am 24. September ähnlich sehen?
Christian Fürst