2015 flüchtete Yusra Mardini aus Syrien und landete in Berlin. 2016 machte sie als Schwimmerin auf sich aufmerksam. Inzwischen ist sie viel mehr: eine Botschafterin. Ihr Leben wird sogar verfilmt. Dabei ist sie gerade mal 19 Jahre alt.
Nein, zu dieser betreffenden U-Bahn-Station ist Yusra Mardini nicht zurückgekehrt. Das wäre einfach zu viel gewesen. Auch die stärkste junge Frau muss sich nicht allen Dämonen der Vergangenheit auf einmal stellen. Es war schon schwer genug für sie, nach Budapest zurückzukommen. Zumindest schon jetzt. Denn es ist schließlich gerade einmal zwei Jahre her, dass sie, unter anderem mit ihrer Schwester, vor dem Krieg in Syrien floh. Sie nahm die Balkanroute und lebte für zwei Nächte in einer U-Bahn-Station in Budapest. "Das einzig Schöne war, jeden Tag bei McDonalds zu essen", sagt sie. "Das darf ich heute als Sportlerin nicht mehr." Yusra Mardini hat die besondere Fähigkeit, allen noch so schlimmen Dingen etwas Gutes abgewinnen zu können.
Doch sie nennt die Dinge auch beim Namen. "Es war einfach schrecklich", sagt sie über die beiden Nächte damals in Budapest. "Es gab Probleme mit der Polizei und anderen Menschen. Ich wurde auch geschlagen." Doch schon damals schwor Yusra sich selbst: "Irgendwann werde ich nach Ungarn zurückkehren. Unter anderen Umständen. Um den Menschen zu zeigen, dass ich nicht nur ein Flüchtling bin".
Die Fähigkeit, allen Dingen etwas Gutes abgewinnen zu können
Normalerweise hätte sie sich dafür wohl etwas Zeit genommen. Doch nun ist sie eben Schwimmerin. Und die Schwimm-Weltmeisterschaften 2017 fanden nun mal in Budapest statt. Also kehrte sie schon zwei Jahre nach jenen zwei schlimmen Nächten nach Ungarn zurück. "Als ich das gehört habe, war es zunächst ein Schock", sagt sie. "Ich hatte Angst." Doch dann drehte sich schnell wieder ihre Perspektive. "Ich habe mir geschworen, mit einem anderen Blick zurückzukehren, um alles zu verarbeiten. Als ich damals hier war, habe ich ein schlechtes Bild von den Menschen bekommen. Jetzt habe ich gesehen, die Menschen sind sehr nett und hilfsbereit. Ich habe meine Meinung geändert."
Es sind Erlebnisse und Sätze wie diese, die Yusra Mardini zu einer jungen Frau machen, die die Welt verändert. Und das ist wenn überhaupt nur minimal übertrieben. Sie ist zum Gesicht einer ganzen Flüchtlingsgeneration geworden. Sie ist in eine Rolle gedrängt worden, die sie nie wollte. Und die sie doch innerhalb kürzester Zeit besser ausfüllt, als man es hätte erfinden können. Eloquent, charmant, mit guter Beobachtungsgabe, einer besonderen Mischung aus Selbstbewusstsein und Respekt allen und jedem gegenüber. Sie hat die Gabe, über all die schlimmen Dinge zu berichten, die sie in ihrem jungen Leben schon erlebt hat. Nachvollziehbar, dabei aber fast nie anklagend. Emotional, aber nie aufgesetzt. Mitreißend, aber doch immer versöhnlich. Sie sendet klare, einfache, menschliche Botschaften aus, die diese Welt von heute braucht. Dass sie nicht anders ist als die anderen, nur weil sie Flüchtling ist. Und sie verzeiht denen, die sie dennoch verurteilt und schlecht behandelt haben.
"Am Anfang hatte das Wort Flüchtling eine schlechte Bedeutung. Manche setzten es mit Terrorist gleich", sagt sie. Und ergänzt im Brustton der Überzeugung: "Aber das hat sich geändert. Viele schauen auf mich als Beispiel". Das habe sie "sich nicht ausgesucht", erklärt sie. "Aber ich werde meine Stimme immer erheben." Und dann schaut sie den Menschen ganz klar in die Augen. "Ihr müsst Flüchtlinge unterstützen. Ihr müsst Euch einfach in deren Situation versetzen. Denn man weiß nie, was passiert. Es kann jedem passieren. Zu jeder Zeit. Ich sage nicht, dass 100 Prozent der Flüchtlinge gute Menschen sind. Aber das sind auch nicht 100 Prozent der Europäer. Deshalb sind wir gleich."
Das klingt ein wenig nach Politikerin. Aber Yusra Mardini sagt auch: "Ich bin ein ganz normaler Teenager wie andere auch". Und sie sei eben erst in dritter Linie Botschafterin. "Zuerst bin ich Schülerin. Als zweites Schwimmerin. Und dann kommen die Interviews."
"Ich bin ein ganz normaler Teenager wie andere auch"
Die ersten Anfragen kamen kurz vor den Olympischen Spielen 2016. "Als der erste Reporter kam und mich fragte, ob wir ein Interview machen könnten, sagte ich: Klar, warum nicht, ich hab grad nichts anderes zu tun", erzählt sie. "Doch dann ging es durch Europa und durch die ganze Welt. Es wuchs und wuchs." Bald kannte jeder ihre Geschichte.
Yusra ist inzwischen in Berlin gelandet. Sie fühlt sich gut aufgenommen. "Manche mögen Flüchtlinge, andere nicht, aber das ist überall auf der Welt so", sagt sie. "Ich habe eine andere Kultur. Aber die Menschen haben gemerkt, dass ich nicht anders bin. Ich habe viele Freunde gefunden. Vor allem: Sie haben mir einen Platz zum Leben gegeben und ein Becken zum Schwimmen. Deshalb bin ich Deutschland sehr dankbar."
Schon im Alter von drei Jahren begann Mardini mit dem Schwimmen, es ist ihre große Leidenschaft. Unter der Fahne des Internationalen Olympischen Komitees durfte sie bei Olympia in Rio starten, unter der des Schwimm-Weltverbandes Fina bei der WM in Budapest. Irgendwann könne sie sich auch vorstellen für Deutschland zu starten, sagt sie. "Aber erst muss ich den Pass bekommen. Und dann sind die Normen in Deutschland sehr hart. Aber ich bin auch froh, die Flüchtlinge dieser Welt zu vertreten."
Das tut sie inzwischen auf allerhöchsten Ebenen. "Ich habe den Präsidenten der USA getroffen (Ex-Präsident Barack Obama, Anm. d. Red.)", sagt sie. "Und den Papst. Unglaublich." Die Vereinten Nationen ernannten sie zur neuen UN-Sonderbotschafterin für Flüchtlinge des Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Bald erscheint ein Buch über ihr Leben, kurz danach ein Film. "Ich hätte gerne, dass Angelina Jolie oder Emma Watson mich spielen", sagt sie, manchmal eben doch ganz Teenager. Es gab sogar die Überlegung, dass sie sich selbst spielt, aber dafür hätte sie mindestens ein halbes Jahr mit dem Schwimmen aufhören müssen. Und das wollte Yusra nicht, schließlich sind die Olympischen Spiele 2020 in Tokio ihr großes Ziel.
Aber sie zittert auch jetzt schon vor dem Moment, wenn sie das erste Mal ihre eigene Geschichte auf der Leinwand sehen wird. "Ich fürchte, ich werde viel weinen", sagt sie. "Ich hoffe, ich darf den Film erst einmal alleine sehen, bevor ich ihn mit vielen anderen zusammen schaue." Denn klar, so aufgeräumt sie heute auch darüber redet: "Es war schon hart. Ich habe nie daran gedacht, dass ich sterben könnte. Manchmal war es lustig, und ich habe sogar gelacht. Manchmal hätte ich aber auch weinen können. Einer ist aus dem Boot gefallen, der nicht schwimmen konnte. Es war nicht das beste Gefühl der Welt. Ich bin schon froh, dass alles vorbei ist".
Und auch heute ist es "nicht immer leicht. Manchmal gehe ich in mein Zimmer, schließe mich ein und weine wie ein Baby". Doch dann geht sie zu Facebook, Twitter, Instagram, schaut in ihre E-Mails. Und findet Nachrichten aus aller Welt. Von Menschen, die aus ihrem Weg Hoffnung schöpfen. "Ein Junge schrieb mir, dass sein Vater starb und er für die Familie verantwortlich ist", erzählt sie. "Und ich habe gedacht, mein Leben wäre hart."
Holger Schmidt