Der Probegalopp mit Bluff, tarnen und täuschen ist vorbei. Was das Versteckspiel der zehn Formel-1-Teams nach acht Testtagen wert war, zeigt sich an diesem Sonntag. Beim Saisonauftakt im Albert Park in Melbourne werden die Karten endgültig aufgedeckt. Ein erstes Kräfteverhältnis wird bereits im Qualifying sichtbar werden.
Das Wettrüsten in den "eiligen und heiligen" Hallen macht eine kurze Pause. Fortsetzung nach jedem Rennen. In den Konstruktionsbüros und Werkstätten wurde über Winter gewirkt und gewerkelt, was das Zeug hielt. Die "hellen Köpfe", die Aerodynamiker, Ingenieure, Techniker und Motorenspezialisten haben die Formel-1-Boliden der Generation 2017 nach einem neuen Reglement kreiert. Anschließend haben die Fahrer der zehn Teams getestet, getestet und nochmals getestet. An acht Tagen haben sie auf dem Circuit de Catalunya nahe Barcelona in zwei Etappen zusammen fast 35.500 Kilometer in 64 Stunden abgespult. Reifentests, Aerodynamik-, Komponenten- und jede Menge andere Experimente versucht. Es waren zwei Phasen mit dem Nährboden für Spekulationen, Tage des Bluffs, des Donners und ein trügerisches Spiel mit ständig wechselnden Bestzeiten. Was diese Zeiten aussagen, wird sich am Sonntag (7 Uhr, RTL/Sky) beim Auftaktrennen im Albert Park in Melbourne zeigen. Am anderen Ende der Welt, in "Down Under", wie die Umschreibung für Australien wegen des herunterhängenden Zipfels auf der Weltkarte salopp auch heißt, startet die Formel 1 dann in ihre 68. Saison. Für die Fans ist gleichzeitig eine Leidenszeit von exakt 118 Tagen ohne Rennen vorbei. Was aber dürfen Fans und Fahrer von dem Saisonstart erwarten, wenn "die Hosen runtergelassen werden", wie es der ehemalige Formel-1-Pilot und Gaudibursch Hans Joachim "Strietzel" Stuck (74 Grand Prix) in der ihm eigenen Art salopp und ziemlich drastisch ausdrückte? FORUM versucht einen ersten Ausblick auf die neue Saison zu geben. Dabei müssen wir uns trotz verdeckter Karten an den Testtagen orientieren.
Die Hosen werden
runtergelassen
Ferrari hinterließ in Barcelona einen starken Eindruck und zwar in allen Disziplinen. Die "rote Göttin" war unter allen Bedingungen schnell, drehte konstant und vor allem zuverlässig ihre 952 Runden, 98 mehr als im Vorjahr. Die Bestzeiten waren beeindruckend. Am offensichtlichsten ist immer der Blick auf das finale Tableau. Doch die reine Zeitenliste ist natürlich mit Vorsicht zu genießen: Die Reifenmischungen sind unterschiedlich, die Benzinmengen unbekannt, die Motoreneinstellung ebenso. Die Experten sind sich einig: Ferrari ist der große Gewinner der Testfahrten. Nicht nur, aber auch aufgrund der Zuverlässigkeit der neuen "roten Göttin" von Sebastian Vettel und Kimi Räikkönen.
Der normalerweise wortkarge, einsilbige Finne frohlockte: "Wenn wir gewollt hätten, wären wir noch schneller gewesen." Die Konkurrenz von Mercedes nahm die Leistung von Ferrari zur Kenntnis. "Sie sind sehr nah dran, wenn nicht sogar schneller", stellte Lewis Hamilton fest. Und Sebastian Vettel sah man im Fernsehen und auf Fotos auf dem Highway sozialer Netze an: Der Ferrari-Star hat sein Lächeln zurückgewonnen. Trotz seiner guten Leistungen hielt sich der Deutsche mit Ankündigungen zum Saisonstart zurück. "Es ist nicht wichtig, hier beim Test ganz oben in der Tabelle zu stehen. Dafür gibt es keine Punkte. Natürlich schauen die Leute immer gerne auf die Bestzeiten. Man darf nicht zu weit von der Spitze weg sein, aber es gibt noch nichts zu gewinnen", drückte Vettel auf die Euphoriebremse.
"Sie sind
nah dran"
Den Ball von Mercedes-Sportchef Toto Wolff ("Ferrari sind echte Gegner") spielt Vettel gekonnt zurück. "Was Mercedes abgespult hat, ist eindrucksvoll. Nicht nur die Anzahl der Runden, sondern auch die Konstanz. Sie sind nach wie vor das Maß aller Dinge", lassen sich Vettel und Ferrari nicht in die Favoritenrolle drängen. Ob der viermalige Champion tiefstapelt, wird sich nach dem Melbourne-Rennen zeigen. "Wenn wir um das Podium kämpfen könnten, dann wäre das schon toll. Aber das ist noch weit entfernt. Wir müssen noch viel lernen. Mercedes legt die Latte sehr hoch. Wenn man drei Titel in Folge gewonnen hat, ist man automatisch Favorit", hält Vettel den Ball flach.
Fakt ist: Ferrari ist auf die neue Saison bedeutend besser vorbereitet als im vergangenen Jahr. Kurzer Blick zurück: In seinem Ferrari-Premierejahr 2015 hat sich der Heppenheimer mit drei Siegen an Branchenprimus Mercedes herangepirscht. 2016 wollten die Roten die Silbernen attackieren und selbst nach den Sternen greifen. Doch weit gefehlt. Am Ende reichte es in der Markenwertung nicht mal zu Platz zwei. Es war eine Saison ohne Sieg. Zum 15. Mal in 67 Jahren Formel 1. Auf die Frage, wie lange es dauern werde, bis Ferrari wieder ernsthaft um den WM-Titel kämpfen wird, antwortete Teamchef Maurizio Arrivabene: "Wenn du aus einem Desaster kommst und nach oben willst, brauchst du in der Formel 1 normalerweise drei Jahre. Wir wollen es in zwei Jahren schaffen, wir werden 2016 richtig angreifen." Mercedes und die Sterndeuter sollten gewarnt sein. Doch der Angriff wurde total niedergeschlagen. Dazu kamen immer wieder Defekte. Vettels Teamkollege Kimi Räikkönen brannte in Melbourne der Turbolader ab. Vettel platzte in Bahrain der Motor. Viermal wurden Vettel und Räikkönen wegen eines Getriebewechsels jeweils um fünf Startplätze zurückplatziert. In Singapur startete Vettel wegen eines Aufhängeproblems aus der letzten Reihe. Vettel und Ferrari sind in der Saison 2016 hart gelandet. Mit seinem Wechsel nach sechs Jahren von den "Bullen" (2009 bis 2014) zum italienischen Renommier-Rennstall und Formel-1-Traditionsteam Ferrari hat sich der damals 27-jährige Teutone einen Traum erfüllt. Und die Roten aus Maranello träumten mit ihrem neuen "Heilsbringer" von besseren Zeiten. Doch die lassen noch immer auf sich warten. Im Hauptquartier in Maranello wissen alle Häuptlinge, dass der Schuss 2017 sitzen muss. Wenn er kein Volltreffer wird, dann brennt in Italien der Baum. Vettel könnte dann nach seinem Dreijahresvertrag dem "Feuer" entfliehen und bei Mercedes Zuflucht finden.
Mit dem Fahrertitel und dem Gewinn der Markenwertung der vergangenen drei Jahre in Folge hat Mercedes fette Beute gemacht. Und so ein Team ist normalerweise auch Favorit für die nächste Saison. Wenn auch ohne den abgetretenen Weltmeister Nico Rosberg. Der geborene Wiesbadener und heutige Wahl-Monegasse hat bekanntlich fünf Tage nach seinem Titelgewinn in Abu Dhabi hingeschmissen. Nun aber mal Klartext: Die Mercedes-Dominanz spiegelte sich zuletzt auch in der Erfolgslosigkeit der Konkurrenz wider.
Die Roten träumen von besseren Zeiten
Eigentlich galt Red Bull für 2017 als der große Herausforderer der Silberpfeile. Doch noch ist bei den Bullen Sand im Getriebe. Der Renault-Motor ist die Achillesferse. Dennoch sieht Mercedes-Oberaufseher Niki Lauda Red Bull und Ferrari als härteste Gegner des Weltmeister-Teams. "Ich glaube, es liegt ein hartes Jahr vor uns", grantelte der Österreicher im Interview seines zweiten Arbeitgebers RTL und prognostizierte, dass "kein Mensch vorhersehen könne, wer für Melbourne Favorit ist." Außerdem sei sowieso erst nach drei Rennen absehbar, wer rundum ein gelungenes Auto gebaut hat. Mercedes traue er, Lauda, das aber zu. Und dennoch: Geht es nach "Prophet" Lauda, wird die neue Saison kein Spiegelbild der alten werden obwohl Mercedes nach Einschätzung der Experten als hoher Favorit auf den Titel gehandelt wird.
Lewis Hamilton, Star-Pilot der Silbernen, ist in einer Pressemitteilung "mit dem gewonnenen Wissen bei den Testfahrten zufrieden und zuversichtlich, dass wir alles Nötige herausgeholt haben, um in Melbourne mitzukämpfen." Der von Rosberg geschlagene dreimalige Champion stellt sich auf einen harten Kampf ein. "Ferrari hat einen guten Job gemacht. Wir müssen versuchen, sie in Schach zu halten", so die Hamilton-Ansage.
Einen "guten Job gemacht zu haben" bescheinigt Hamilton auch seinem neuen Teamkollegen und Rosberg-Nachfolger Valtteri Bottas. Der Finne, von seinem Ex-Manager Toto Wolff nach drei Williams-Jahren und 77 Grand-Prix-Starts von den Engländern losgeeist, haut in die gleiche Kerbe. "Wir sind uns keinesfalls sicher, dass wir die Nummer eins sind. Unser Gefühl ist, dass die anderen gute Fortschritte gemacht haben, allen voran Ferrari", so der Mercedes-Teamneuling. Für den 27-Jährigen wird es eine Mammutaufgabe. Er muss Champion Nico Rosberg ersetzen und gegen Alphatier Lewis Hamilton bestehen. Der bullige Bottas bekam mit dem freien Rosberg-Cockpit bei Mercedes die Chance seines Lebens, als er am 16. Januar den Zuschlag bekam. "Es ist eine riesige Herausforderung für mich. Auf der anderen Seite auch eine riesige Chance", so das "Nordlicht" aus Nastola. Selbstbewusst geht Bottas in das Duell mit Hamilton. "Ich will und werde zeigen, wozu ich fähig bin", so seine Kampfansage an den Teamkollegen. Gleichzeitig zollt er dem Dreifach-Champ aber auch großen Respekt. "Lewis hat viele Poles, 53 Siege und drei Weltmeisterschaften geholt. Ich dagegen habe noch kein Rennen gewonnen, ich habe noch einiges zu beweisen", so der Fan seines Landmanns und zweimaligen Weltmeisters Mika Häkkinen. Beweisen will Bottas, dass er "nicht hier ist, um Zweiter zu werden." Im gleichen Sky-Interview schob er hinterher: "Nico hat gezeigt, dass es möglich ist, Lewis zu schlagen." Prompt kam später eine Breitseite von Hamiltons Vater Anthony: "Mein Sohn kann ganze Karrieren zerstören", so der "alte" Hamilton.
Wir dürfen uns auf ein entfesseltes Mercedes-Duell und einen fesselnden Zweikampf der Silbernen gegen die Roten einstellen.
Walter Koster
INFO: Start so spannend wie nie
Eine neue Startprozedur rückt den Fahrer gleich mit Beginn eines Rennens in den Mittelpunkt. Das Anfahren wird schwerer und unberechenbarer als 2016. Schon im vergangenen Jahr verschärften die Regelhüter die Wegfahrprozedur. Ab dieser Saison sind die Ingenieure entmachtet, die Verantwortung fürs Losfahren müssen wieder die Fahrer übernehmen. Aus technischer Sicht hat sich Grundlegendes geändert.
2016 waren zwei Hebel für die Kupplung am Lenkrad erlaubt. 2017 ist nur noch eine Kupplungswippe gestattet. Was noch bedeutender ist: Vorher war es so, dass die Wippe am Lenkrad die Position der Kupplung selbst bestimmten. Wenn der Fahrer sie anzog, war die Kupplung offen. Je mehr er sie löste, desto mehr näherte sie sich ihrem Einrastpunkt. Nun ist die eigentliche Stellung der Lenkradwippe losgelöst von der Stellung der Kupplung. Die Fahrer fordern jetzt über die Kupplungswippe an, wieviel Drehmoment sie für den Start haben möchten. Das Losfahren in einem F1-Auto ist heute vergleichbar mit dem Anfahren eines Straßenautos. "Es gibt keinen Druckpunkt mehr, in den wir die Kupplung reinfallen lassen müssen", so Sauber-Pilot Pascal Wehrlein in seiner Beschreibung. "Die Chance, Fehler zu machen, ist viel höher. Vor allem mit dem Druck, der am Rennstart herrscht. Es gibt kein System mehr, das uns hilft und auf das man sich verlassen kann. Jetzt kommt es auf die Kupplungshand und den Gasfuß an, wobei Millimeter entscheiden", so die Erkenntnis von Mercedes-Neuling Valtteri Bottas. Wenn der Ingenieur vorher alles korrekt eingestellt hatte, hatte der Fahrer kaum etwas zu befürchten.