Der Fußball ist in Bewegung gekommen. Torlinientechnik, Videobeweis, vierte Auswechslung sind nur die jüngsten Beispiele für tiefgreifende Veränderungen der Weltsportart Nummer eins. Zuletzt überlegte der Weltverband Fifa auch Neuerungen bei Elfmeterschießen, Abseits und Zeitstrafen. Damit liegt Fußball im Trend andere Sportarten haben sich durch Reformen längst aufgehübscht.
Shootout statt Elfmeterschießen, Abschaffung der Abseitsregel, Zeitstrafen statt Gelbsperren? Beim Fußball-Weltverband Fifa wird unter dem neuen Boss Gianni Infantino betont quergedacht. So revolutionär die jüngsten Vorschläge von Fifa-Direktor Marco van Basten erscheinen, so sehr müssen sich die Fans voraussichtlich auf weitere Änderungen ihres Sports einstellen. Die beinahe in Handstreich-Manier durchgepeitschte Aufstockung des WM-Turniers ab 2026 auf gleich 48 Teilnehmernationen unterstrich zu Jahresbeginn wenn auch nicht nur aus edlen Motiven die Entschlossenheit von Infantino und seiner Führungsclique zu einschneidenden Reformen.
,,Immer beobachten
und prüfen"
Zur Prüfung der Stimmungslage wenigstens für weitere Experimente schickte Infantino denn im Januar van Basten vor. Manche Ideen des früheren Weltstars erscheinen beim Blick auf die Spieler-Vita des niederländischen Europameisters von 1988 eher als eine persönliche Abrechnung, denn als realistische Beiträge zu einer konstruktiven Debatte: Zeit seiner Karriere hatte van Basten immer wieder lautstark für die Abschaffung der gerade für Spieler seines Typs unbequemen Abseitsregel plädiert und bei der EM-Endrunde 1992 in einem Elfmeterschießen durch einen Fehlschuss einen der schwärzesten Momente seiner Laufbahn erleben müssen. Bleibt also die Frage: Welche von van Bastens Ideen sind realistisch und damit auch weltweit umsetzungsfähig?
"Wir müssen", meinte der Leitende Direktor der Fifa für technische Entwicklung, so van Bastens offizielle Titulierung, bei der Vorstellung seiner Projekte, "wir müssen den Fußball beobachten und immer prüfen, ob und wie wir das Spiel verbessern können, um den Fußball ehrlicher, dynamischer und interessanter zu machen."
Nun, ob ein Shootout wie beim Eishockey bereits in den 70er-Jahren in der US-Liga NASL mit Altstars vom Schlage eines Pele oder auch Franz Beckenbauer insgesamt doch erfolglos getestet den Nervenkitzel beim Elfmeterschießen ersetzen könnte, darf sicherlich bezweifelt werden. Fußball ohne Abseits dürfte sich
auch wenn die größte Fehlerquelle bei Schiedsrichter-Entscheidungen damit ausgetrocknet würde gleichfalls als kontraproduktiv für van Bastens Ziele erweisen: In diesem Fall dürften sich geradezu Horden von Spielern analog zum Handball weitgehend nur noch in der Nähe des gegnerischen Tores tummeln und auf ihre Chance lauern. Die wellenartigen Bewegungen der Mannschaften im Spielverlauf würden sich voraussichtlich erheblich verringern.
"Es wäre ein anderer Sport", kommentierte Erfolgscoach Carlo Ancelotti vom Deutschen Meister Bayern München die Anti-Abseitspläne mit kategorischer Ablehnung. Der Italiener sprach in dieser Frage allen Fachleuten aus der Seele, in anderen Punkten jedoch außerdem noch eine Nettospielzeit für die Schlussphase von Spielen gehen die Meinungen in der Gilde der Trainer auseinander. Für Julian Nagelsmann von Bundesligist 1899 Hoffenheim etwa "kann etwas frischer Wind nicht schaden" und wäre ein Shootout "eine interessante Alternative zum Elfmeter", während Ralph Hasenhüttl vom Überraschungs-Aufsteiger RB Leipzig "amerikanische Verhältnisse mit dem Wunsch nach einer Entscheidung" für nicht allgemein auf den Fußball übertragbar hält. Angetan indes ist der Österreicher, der mit Kollegen wie Nagelsmann oder Thomas Tuchel von Vizemeister Borussia Dortmund für eine "neue Generation" der Fußball-Lehrer steht, vom Gedanken an Zeitstrafen anstelle von Gelben Karten. Hasenhüttls Argument: Die Strafe für einen schwereren Regelverstoß erfolgt unmittelbar mit möglichen Vorteilen für die geschädigte Mannschaft und nicht erst in späteren Spielen durch Sperren.
"Frischer Wind"
durch Shootout
"Zeitstrafen sind das einzige von den Vorschlägen, das bei der Verbesserung des Spiels hilft", meint Hasenhüttl: "Wenn ein Konter durch ein taktisches Foul gestört wird, dann würde eine Fünf-Minuten-Zeitstrafe wesentlich mehr helfen als eine Gelbe Karte, die dann zwei oder drei Spieltage später erst dem Gegner schadet."
Rein gar nichts hält unterdessen Jürgen Klopp von jeglichen Veränderungen. "All diese Regeländerungen ruinieren den Fußball", erklärte der deutsche Teammanager von Englands Ex-Rekordmeister FC Liverpool aufgebracht und legte gegen die Fifa-Strategen nach: "Diese Leute lieben den Fußball nicht. Sie quetschen alles aus ihm heraus. Das Spiel, das wir lieben, braucht das nicht. Dieses wundervolle Spiel braucht keine Regeländerungen. Was wir tun, ist, dieses Spiel in Gefahr zu bringen. Die Leute kümmern sich nicht um die Zukunft unseres Spiels.
Ähnliche Vorbehalte hatten allerdings einst schon gegen frühere Reformen im Fußball bestanden. Zu Recht, wie sich beispielsweise an den letztlich als misslungen anzusehenden "Golden Goal" (sofortiges Spielende in der Verlängerung nach einem Tor) oder gar "Silver Goal" (Spielende schon bei Halbzeit der Verlängerung nach mindestens einem Tor für eine Mannschaft mit der Chance des Ausgleichs für den Gegner bis zur Pause). Heutzutage gilt dagegen insbesondere das Verbot des Rückpasses zum Torwart als ein absoluter Coup, auch die Aufwertung des Offensivspiels durch die Drei-Punkte-Regel hat sich insgesamt als Gewinn für den Fußball erwiesen. Technische Verbesserungen wie die Torlinien-Technologie und der in naher Zukunft sicherlich flächendeckend zum Einsatz kommende Videobeweis sorgen um den Preis obsolet werdender Fan-Debatten am Arbeitsplatz oder am Stammtisch zudem für mehr und auch notwendige Gerechtigkeit.
In anderen Sportarten sind Innovationen beinahe schon an der Tagesordnung. Im Verdrängungswettbewerb um mehr TV-Zeiten und Geld hinter dem schier übermächtigen "König Fußball" hübschen sich Handball, Volleyball und Co. für Publikum und Sponsoren so weit wie möglich auf.
Änderungen bereits im Handball und Hockey
Im Handball ist gerade zur laufenden Saison bei Angriffen der Einsatz eines siebten Feldspielers anstelle des Torwarts erlaubt und die Bestrafung von Fouls in der Schlussminute zur Zeitschinderei durch einen Siebenmeter für den Gegner eingeführt worden. Im Hockey ist die Teilung eines Spiels in vier Viertel statt zwei Hälften inklusive einer um zehn Minuten verkürzten Gesamtspielzeit erst kürzlich endgültig auf internationaler Ebene festgeschrieben worden, nachdem die Stock-Artisten auch schon ein Shootout statt des Siebenmeter-Schießens sowie den Videobeweis eingeführt und sich damit dem "großen Bruder" Eishockey angenähert hatten. Volleyball und Tennis haben für verschiedene hochkarätige Wettbewerbe die Zählweise für die Entscheidungssätze teilweise massiv verkürzt. Im Ringen erfand der Weltverband im Kampf um die weitere Zugehörigkeit der Schwerathleten zum Programm von Olympischen Spielen nach den Worten seines Präsidenten sogar "einen neuen Sport". Einer Radikalkur unterzog sich auch der Tischtennis-Sport: Das Ersetzen der "heiligen 21" als notwendige Punktzahl für den Gewinn eines Satzes durch die "11" sorgte für mehr Entscheidungssituationen, der um zwei Millimeter auf 40 Millimeter vergrößerte Ball sollte das Geschehen rund um den Tisch "sichtbarer" machen, und bei Ligaspielen wurde gegen bis heute anhaltende Widerstände an der Basis das Center-Court-Prinzip anstelle von zuvor zwei Tischen etabliert. Die Reihe ließe sich um noch so manch andere Sportart verlängern.
Klopp sieht in den vereinzelt durchaus als Erfolg zu wertenden Beispielen allerdings keinen Grund für mehr Experimentierfreudigkeit. Aus Sicht von Dortmunds früherem Erfolgscoach ist der Fußball mit seiner weitgehend durchaus immer noch erhaltenen Reinform perfekt: "Van Basten kann ein anderes Spiel erfinden."
Samira Manzke