Nach der erneuten Olympia-Enttäuschung steht Bundestrainer Henning Lambertz bei der WM in Budapest unter Druck. Die Zeit der großen Kompromisse ist vorbei.
Es ist nicht so, als ob Henning Lambertz nicht gewusst hätte, auf was er sich da einlässt. Als er im Januar 2013 das Amt des Chef-Bundestrainers im Schwimmen übernahm, war die sportliche Aussicht bereits trüb.
Die großen Erfolge von Olympiasiegerin Britta Steffen und Weltmeister Paul Biedermann lagen schon ein paar Jahre zurück, der Nachwuchs schwamm im internationalen Vergleich weit hinterher. Daher bat Lambertz bei seiner Vorstellung vor allem um eins: Geduld. Er richte seine Arbeit langfristig aus, mit Blick auf Olympia 2020, sagte er damals.
Bei den Weltmeisterschaften in Budapest (14. bis 30. Juli), dem ersten großen Wettbewerb in seinem zweiten Olympiazyklus, steht Lambertz also gehörig unter Druck. Doch nach dem enttäuschenden Abschneiden bei den Sommerspielen in Rio de Janeiro, bei dem die deutschen Schwimmer ohne eine einzige Medaille nach Hause fliegen mussten, deutet nur wenig auf Besserung hin. Die harten WM-Normen, die sich nach Platz acht bei Olympia richteten, haben nur drei Athleten sauber erfüllt. Weltmeister Marco Koch darf nur aufgrund einer Ausnahmeregelung mit nach Budapest reisen. Dazu kommen vier Schwimmer, die die abgeschwächte U23-Norm unterbieten konnten, sowie drei Staffeln. Insgesamt ist das Beckenteam im Vergleich zur WM vor zwei Jahren in Kasan von 31 auf 14 Schwimmer geschrumpft. "Das ist der ungeschönte Ist-Zustand im deutschen Schwimmsport", sagt Lambertz. Der Bundestrainer fordert daher: "Wir müssen uns ruckartig bewegen, mit großen Schritten.
Das Motto Irgendwie gehts schon hat sich endgültig überholt." Man merkt deutlich: Lambertz ist kompromissloser als noch zu Beginn seiner Amtszeit. "Ich habe jetzt vier Jahre versucht, die Leute abzuholen und zu überzeugen", sagt der 46-Jährige, "aber es herrscht nur an wenigen Stellen diese Aufbruchstimmung. Es wird nur problem- und nicht lösungsorientiert gedacht. Das ist mega-ermüdend."
Für seine Maßnahmen, die er nach dem medaillenlosen Abschneiden von Rio ausgearbeitet hat, also die verstärkte Zentralisierung, ein neues Kraftkonzept und härtere Normen, erntete Lambertz zum Teil scharfe Kritik. Der Bundestrainer versuche, "allen eine Doktrin aufzudrücken, von der nur er selbst überzeugt ist", sagte zum Beispiel Ex-Weltmeister Paul Biedermann. Dessen langjähriger Heimtrainer Frank Embacher, der sich im Rechtsstreit mit dem Verband befindet, sprach gar von "Nötigung". Lambertz wehrt sich gegen den Vorwurf, er würde Alleingänge machen. Aber er vermisse "den Mut, auf den Entscheidungen meines Teams nicht herumzuhacken, sondern sie eigenmotiviert umzusetzen". Sein mit externen Wissenschaftlern ausgearbeitetes Kraftkonzept, das im Landtraining auf Maximalkraft statt auf Kraftausdauer setzt, würden zum Beispiel rund 80 Prozent des Nationalteams umsetzen. Das hat eine zweite Kraftüberprüfung nach den deutschen Meisterschaften im Juni ergeben. "Bei den anderen wird es nach der WM ein klärendes Gespräch geben", kündigte Lambertz an. Der Bundestrainer hatte gedroht, den Athleten Fördermittel zu streichen, wenn sie nicht mitziehen. Die Stuttgarterin Vanessa Grimberg weigerte sich zum Beispiel, aus privaten Gründen zum Bundesstützpunkt Heidelberg zu ziehen. Die Folge: Lambertz kündigte ihr die Stelle als Sportsoldatin bei der Bundeswehr. "Es kann nicht sein, dass Sportler dadurch ihre Jobs und ihren Lebensmittelpunkt aufgeben müssen", kritisierte Ex-Weltmeister Thomas Rupprath in der "Sport-Bild". "Früher gab es das auch nicht, und wir hatten mehr Erfolg als heute."
Früher gab es aber auch deutlich mehr Top-Schwimmer als heute, entgegnet Lambertz. Außerdem sei die verstärkte Zentralisierung ein nicht zu verhandelnder Auftrag seitens des Bundesinnenministeriums. "Die Alternative ist, dass wir im Lotto gewinnen oder einen großen Sponsor finden", sagt die neue DSV-Präsidentin Gabi Dörries. Das mit den Sponsoren dürfte schwierig werden, denn das öffentliche Interesse am Leistungsschwimmen nimmt zunehmend ab. ARD und ZDF haben Livebilder von der WM aus ihrem Hauptprogramm gestrichen, weil die Einschaltquoten zuletzt miserabel waren. Und in Weltrekordler Paul Biedermann ist ein Zugpferd nach Olympia auch noch zurückgetreten. Livebilder sind nur noch bei den Spartensendern One, ZDFinfo, Eurosport und im Stream auf sportschau.de und zdf.de zu sehen. "Das ist sehr traurig und meiner Meinung nach nicht im Interesse des Zuschauers, der mitnichten nur Fußball sehen will", findet Lambertz. Er sagt aber auch: "Wir brauchen wieder absolute Zuschauer-Magneten wie eine Franziska van Almsick."
einschaltquoten miserabel
Die aber sind weit und breit nicht in Sicht. Selbst sportlich erfolgreiche Schwimmer wie Weltmeister Koch oder die Weltjahresbesten Philipp Heintz und Franziska Hentke sind der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt. Warum? Weil sie das Rampenlicht so gut es geht meiden. Eine Sogwirkung auf die Jugend geht von ihnen kaum aus, anders als damals bei van Almsick. "Franzi war das Zugpferd, das alle mitgezogen hat", sagt Rupprath. "Ich könnte jeden Tag eine Kerze für Franzi van Almsick anzünden."
Trotzdem sind Koch, Heintz und Hentke realistisch gesehen die einzigen, die die deutsche Bilanz in Budapest retten können. Allerdings bereitet Vorschwimmer Koch Sorgen, der Darmstädter hat auf die immer stärker werdende Konkurrenz auf seiner Paradestrecke 200 Meter Brust in diesem Jahr einen großen Rückstand. Als Grund dafür gibt der Olympia-Siebte die Umstellung auf ein vermehrtes Krafttraining an. Er fühle sich im Wasser "ein bisschen wie ein Bodybuilder", sagte der 27-Jährige. Seine große Stärke, das perfekte Gleiten im Wasser, kam zuletzt kaum zum Tragen. "Ich habe riesige Fortschritte im Kraftraum gemacht
beim Bankdrücken von 110 auf 130 Kilo", sagt Koch. Die größere Kraft aber mit der richtigen Technik zu kombinieren, ist die große Kunst. Deswegen dämpft Deutschlands erfolgreichster Schwimmer der vergangenen Jahre die Erwartungen für die WM: "Ich lasse mich wirklich überraschen."
"ich lasse mich überraschen"
Mit deutlich mehr Rückenwind geht Heintz über 200 Meter Lagen an den Start. Bei der Deutschen Meisterschaft in Berlin setzte der Heidelberger in deutscher Rekordzeit (1:55,76 Minuten) ein dickes Ausrufezeichen. Mit dieser Zeit wäre er bei Olympia in Rio nicht Sechster, sondern Zweiter direkt hinter US-Superstar Michael Phelps (USA) geworden. "Jetzt zählt er zu den ganz Großen und kämpft bei der WM um eine Medaille", sagt Lambertz. Ein Problem könnte aber der Zeitraum zwischen DM und WM sein. "Fünf Wochen sind in meinen Augen zu lang, um die Form zu halten, und zu kurz, um eine neue Topform aufzubauen", sagt Heintz Heimtrainer Michael Spieckermann und kritisiert damit die Terminierung des DSV. Lambertz kontert: "Diese Abstände sind bekannt, und sie werden von den Trainern beherrscht. Deswegen gehe ich davon aus, dass Philip das auf jeden Fall noch mal schaffen kann."
Als Weltranglistenerste startet auch die Magdeburgerin Hentke auf ihrer Paradestrecke 200 Meter Schmetterling. Die Europameisterin misst diesem Umstand aber so gut wie keine Bedeutung bei: "Das ist mir völlig egal. Ich glaube nicht, dass ich mit dieser Zeit bei der WM eine Medaille gewinne. Dort werden die Karten neu gemischt." Bei Olympia in Rio hatte Hentke mit dem Aus im Halbfinale enttäuscht, in Budapest will sie es besser machen.
Für andere wie die erst 16-jährige Celine Rieder (Saarbrücken) ist die WM die erste große Bewährungsprobe. Doch auch die Nachwuchsschwimmer müssen in Ungarns Metropole liefern. "Das Ziel ist, dass sich alle im Vergleich zur Qualifikation noch mal steigern", fordert Lambertz. Er weiß: Wenn er schon keine Medaillen feiern kann, dann sind Saisonbestzeiten die einzig verbliebene Möglichkeit, die Weltmeisterschaft als Hoffnungsschimmer für eine bessere Zukunft verkaufen zu können. Von seinem ursprünglichen Ziel, das deutsche Schwimmen wieder zur Nummer eins in Europa machen zu wollen, will Lambertz noch nicht ganz abrücken. Aber dafür müssten sich strukturell viele Dinge ändern. "Die Nationen, die im Moment führen, haben ganz andere Fördermittel zur Verfügung. Wir kämpfen diese Schlacht mit ungleichen Waffen", sagt er. "Mein Job ist es, konzeptionell an die Sache heranzugehen, und da haben wir noch genug Hausaufgaben."
Jörg Soldwisch