An der Alten Försterei, der Heimstätte des 1. FC Union Berlin, entwickelt sich in diesen Vorfrühlingswochen ein seltsames und ungewohntes Gefühl. Selbst die Fans scheinen etwas irritiert. Denn ihre Kicker stehen an der Spitze der 2. Bundesliga.
Halb verzweifelt, gleichsam ironisch las sich kürzlich ein Spruchband auf der Waldseite im Stadion: "Scheiße ... wir steigen auf". Indes die Gelegenheit dazu ist in dieser Saison tatsächlich günstig wie nie zuvor. Sieben Siege und ein Unentschieden in bislang acht Spielen der Rückrunde gelangen der Mannschaft von Trainer Jens Keller. Darunter waren der nie gefährdete 2:0-Erfolg gegen 1860 München, das souverän verteidigte 2:0 gegen Würzburg dabei 48 Minuten in Unterzahl der heiß umkämpfte 2:1-Auswärtssieg bei St. Pauli und jüngst am vergangenen Montag der "dreckige" 1:0-Heimerfolg gegen Nürnberg. Spiele, die früher verloren wurden, gewinnt Union heute. Nun stehen sie auf Platz eins der Tabelle und damit auf einem direkten Aufstiegsplatz.
Laut einigen Experten ist Union Berlin zurzeit auch die stärkste Mannschaft der Liga. Nicht zu vergessen: Mit Hannover 96 und dem VfB Stuttgart sind zwei hochfavorisierte Teams die unmittelbaren Konkurrenten. Auch Eintracht Braunschweig lauert noch mit guten Chancen in diesem Quartett.
Was ist anders geworden bei Union, dass die Mannschaft nun so plötzlich vor der größten Chance ihrer Geschichte steht? Beginnen wir mit Jens Keller, der vor der Saison nach Köpenick fand. Keller als neuer Trainer nach einer Saison, in der drei Übungsleiter sich abgewechselt hatten, war von niemandem erwartet worden. Einst hatte er mit Schalke 04 immerhin zwei Mal die Champions League erreicht. Dort war er trotzdem nie so recht gelitten. Bei Union erwartete den Schwaben eine völlig andere Situation als auf Schalke. Hier herrscht eine fast familiäre Atmosphäre. Die Ziele sind weit gesteckt. Und ein Tabellenrang unter den ersten Fünf in Liga zwei schon angenehm. Keller beobachtet in seinen ersten Wochen in Berlin eine große Zufriedenheit rund um Union. Der Verein versteht sich eben als der etwas andere Club. Fans, Funktionäre und Kicker liegen auf beinahe einer Wellenlänge. Allen reicht es, in der Zweiten Liga eine gute Rolle zu spielen. "Ich glaube, ich bin der erste Trainer, der entlassen wird, wenn er aufsteigt", meinte Keller einmal gegenüber dem Fußball-Magazin "11 Freunde".
Diese Selbstzufriedenheit konnte Keller für sich nicht akzeptieren. Und natürlich haben auch die Clubleitung, allen voran Präsident Dirk Zingler, einen ehrgeizigen Plan. "Und wenn wir nur eine einzige Saison in der Ersten Liga spielen würden, es hätte sich gelohnt", sagte Zingler bereits vor ein paar Jahren. Heute will er mehr. Einer der besten
20 Vereine Deutschlands soll Union Berlin werden. Das heißt: mindestens Rang zwei also ein direkter Aufstiegsplatz. Und angesichts der tatsächlichen Aufstiegsgefahr, wird nun auch schon vom Um- und Ausbau des Stadions gesprochen, die bei längerem Verbleib im Fußballoberhaus nötig wären: "Jawohl, ich möchte gerne mal mit Union durch die Bundesligastadien ziehen", sagt Zingler. Seine Vision für die Alte Försterei: 40.000 Zuschauerplätze. Nicht zuletzt würde sich ein Aufstieg auch finanziell lohnen. Die Einnahmen aus dem TV-Vertrag könnten sich für Union vervierfachen. In dieser Saison bekommen die Köpenicker neun Millionen Euro, in der Ersten Bundesliga dürften es bis zu 40 Millionen Euro sein.
Andererseits gefällt Jens Keller die unaufgeregte und sachliche Art bei Union. Er sieht da schon gewisse Unterschiede zu seiner Vergangenheit im Ruhrpott. In Köpenick wird der Fußballlehrer allseits respektiert. Und seine Erfolge bestätigen das.
Keller schafft es, aus seiner Mannschaft das Maximale herauszulocken. Geschlossenheit und Ausgeglichenheit ist ihre größte Stärke. Auswechselungen im Spiel erzeugen keinerlei Bruch. Kaum einer merkt, dass in den vergangenen Wochen gestandene Spieler wie Fabian Schönheim, Dennis Daube oder Benjamin Kessel in der Startelf fehlen. Auf ihren Positionen spielen Roberto Puncec, Stephan Fürstner und Christopher Trimmel so stark, dass sie diese Ausfälle fast vergessen lassen. Selbst den starken linken Verteidiger Christian Pedersen vertritt Michael Parensen, Unions dienstältester Spieler, zuverlässig. Statt des verletzten Torhüters Jakob Busk spielt der 21-jährige Daniel Mesenhöler zurzeit fehlerfrei. Und dann ist da auch noch ein Emanuel Pogatetz, der in der Innenverteidigung Toni Leistner oder Roberto Puncec nahezu vollwertig ersetzen kann.
Alle Spieler um den stark verbesserten Kapitän Felix Kroos haben das Spielsystem des Trainers verinnerlicht und setzen es konsequent um. Die Eisernen setzen den Gegner früh unter Druck und sparen durch ihr präzises Spiel nach vorn viel Kraft. Auch der Abgang von Colin Quaner als Topscorer im Winter nach England wurde durch Sebastian Polter mehr als ausgeglichen.
Polters Rückkehr begeistert
Bei Polter, der ja schon vor knapp zwei Jahren bei Union stürmte, hat der Zuschauer den Eindruck, dass er, obwohl gerade aus England gekommen, nie gefehlt hätte. Mehr noch: Er scheint wie ein Katalysator in der Mannschaft zu wirken. An seiner Seite sind seine Sturmkameraden Steven Skrzybski und Simon Hedlund noch gefährlicher geworden. Die 1,6 Millionen Euro Ablöse an die Queens Park Rangers haben sich schon jetzt als geniale Investition erwiesen. "Es geht nicht nur um die Tore, die er macht. Auch um die Art und Weise, wie er seinen Körper reinhaut, wie er die Mannschaft mitreißt und die Bälle ablegt und behauptet. Das ist große Klasse", umreißt Jens Keller Polters Rolle. Und dem Mann gelingen sogar Tore wie am Millerntor zu beobachten mit dem rechten Knie, obwohl er mit dem linken Bein ein Luftloch schlägt.
Mit Polter hat Union einen echten Anführer auf dem Platz gefunden. Diese Rolle trägt er allerdings nicht vor sich her. Polter versteht sich als ganz normales Glied in Unions eiserner Kette. "Ich will, dass meine Mannschaft gewinnt", sagt er. "Wenn ein anderer trifft, freut mich das genauso." Und auch für das Einsammeln der Bälle nach dem Training ist sich der Mann nie zu schade. Die nahe Zukunft schildert Polter mit dürren Worten: "Wenn wir alle Spiele gewinnen, sind wir durch."
Immerhin warten noch neun Spieltage auf die Mannschaften der Zweiten Liga, darunter geht es für Union auswärts gegen die drei direkten Konkurrenten. Der Endspurt der Saison ist angebrochen. Für die Eisernen aus Berlin-Köpenick kann die Position kaum günstiger sein. Und inzwischen heißt es auch beim größten Teil der Fans: Wenn wir schon die Chance haben zum Aufstieg, dann wollen wir sie auch mit aller Kraft nutzen. Übungsleiter Keller meint auf die Frage, ob nun der Druck auf sein Team größer wird als früher, da man bei Union noch lieber tiefstapelte: "Wenn man das Druck nennt, dann ist das schöner Druck. Ich bin gern im Aufstiegsrennen dabei und schaue von oben nach unten."
Hajo Obuchoff