Seit wenigen Monaten macht ein neuer Trendbegriff die Runde in der Fashion-Welt. "Gorpcore" wird allgemein schon als Nachfolger von Normcore gehandelt. Die Zukunft soll Hiking-Camping-Outdoor-Klamotten gehören.
Als vor drei Jahren dem vom Streetstyle abgeleiteten Normalo-Look mit Stonewash-Jeans, lässigen Fleece-Pullis oder bequemen Sneakers der Trendname "Normcore" übergestülpt und als maßgeblich dargestellt wurde, befürchteten nicht wenige Fashion-Beobachter den Anbruch eines Zeitalters der Modemuffel. Dazu ist es zwar nicht gekommen, doch wer deswegen schon mal durchgeatmet oder gar jubiliert hat, den dürfte vor wenigen Wochen das Auftauchen eines scheinbar ebenso mächtigen Normcore-Nachfolgers neuerlich beunruhigt haben. Wie zuvor in Sachen "Normcore" Fiona Duncans Artikel im "New York Magazine", war es wieder ein Journalist, der den neuen Begriff geprägt und definiert hat. Dabei handelt es sich um Jason Chen, der in "The Cut" Ende Mai dem von ihm entdeckten neuen Trend erstmals einen Namen gab: Gorpcore.
Mit Mode hat der Begriff kein bisschen was zu tun. Es handelt sich bei dem wesentlichen Namensbestandteil "Gorp" vielmehr um eine Abkürzung für "Good Old Raisins and Peanuts", weil eine gute Handvoll Rosinen und Nüsse, mithin nichts anderes als Studentenfutter, in Wandererkreisen gemeinhin als beliebter Snack zwischendurch gilt. Gut, darauf muss man erst mal kommen, und der folgende Gedankensprung zu Hiking. Klettern oder Campen ist auch nicht unbedingt naheliegend. Aber es geht um Outdoor, Wald, Berge, Natur. Und darum, was unter freiem Himmel womöglich die perfekten Klamotten und Accessoires sein mögen. In voller Montur können die Gorpcore-Protagonisten durchaus schon mal den Eindruck erwecken, als würden sie im Basislager des K2 auf bestes Wetter zum Erklimmen des legendären Riesen warten.
Chen benötigte in seinem Beitrag relativ viele Anläufe, bis der Leser einigermaßen verstanden haben dürfte, was er eigentlich unter Gorpcore verstehen soll. Er hatte allen Modebegeisterten gleich schon mal ins Stammbuch geschrieben, dass Gorpcore keinesfalls vollkommen identisch ist mit dem "Camping Chic" oder den Couture-Wanderklamotten, wie sie die Luxus-Designer Givenchy, Lanvin und vor allem Prada überwiegend in ihren Herrenkollektionen für den Sommer 2017 gezeigt hatten. Das Phänomen Gorpcore sieht er allerdings keineswegs auf die Menswear beschränkt, auch wenn er das elementare Kriterium der Funktionalität wesentlich eher als ein Merkmal der Herrenmode als der Ladys Fashion betrachtet. "The oufit isnt designer, but it is fashion."
Oder noch anders formuliert: Für die Anhänger von Gorpcore können Klamotten nur noch dann stylisch sein, wenn sie tatsächlich kein bisschen stylisch mehr daherkommen. Weil das Stylische gänzlich hinter Nützlichkeit und Funktionalität zurücktreten müsse. Daher brauche auch niemand mehr über der Frage zu grübeln, ob Neonfarben und sackartige Materialien tatsächlich schick sein können. Auch sollte laut Chen niemand auf die Idee kommen, in Gorpcore-Klamotten möglichst cool wirken zu wollen. Weil das Coole an Gorpcore eben genau sei, nicht bewusst auf cool machen zu wollen.
Dass sich manche Kids von Kopf bis Fuß in Klamotten von Outdoor-Marken hüllen, war natürlich auch für Chen nichts gänzlich Neues. Nur meinte er bei seinen Beobachtungen auf der Straße feststellen zu können, dass in jüngster Zeit immer mehr Kids in Fleece-Jacken oder Puffer-Jacken von Northface, Windjacken von Columbia, Parkas von Arcteryx, Sweatern und Fleece-Westen von Patagonia oder Cargopants von Stone Island, die Promis wie der Rapper Drake oder Rihanna besonders lieben, unterwegs sind. Aber letztendlich war es laut Chen dem Rapper ASAP Rocky zu verdanken, der Anfang 2017 auf der New Yorker Fashion Week in einer roten Fleece-Jacke von Calvin Klein (die einem North Face-Modell zum Verwechseln ähnlich sah), mit einer Bauchtasche von Balenciaga und einer knallroten Prada-Hose aufgetaucht war, dass die High-Fashion-Industrie erst so richtig auf den neuen Trend aufmerksam geworden sei.
Möglichst viel Fleece-Teile und Daunen
Für eine Skitour oder Bergwanderung wäre das fraglos eine angemessene Kluft gewesen. Das war gewissermaßen Gorpcore in schön. Was nicht unbedingt im Sinne von Chen war, weil der die typischen Gorpcore-Klamotten tendenziell eher als unauffällig, praktisch oder trotzig-aufsässig-hässlich beschrieb. Im Idealfall sollte ein Gorpcore-Outfit daher besser aus Fleece-Teilen, Daunen-Puffers, Sweatshirts, Ponchos, Parkas, Windjacken oder Sandalen von Patagonia, North Face, Teva, Birkenstock oder Columbia bestehen, die dann beispielsweise kombiniert werden sollten mit Vans-Sneakers, Hawaiihemden oder Dickies-Hosen. Dabei könnte problemlos ein für den Wald taugliches Outfit zustande kommen. Denn die neue Gorpcore-Ästhetik sei mit dem Wald in besonderer Weise verwandt, weil man sie als die ideale "hiking-camping-outdoor"-Bekleidung ansehen könne.
Sicherlich aufgrund des Artikels von Jason Chen wurde schon wenige Tage später im Slang-Online-Wörterbuch "Urban Dictionary" eine eigene Definition von Gorpcore veröffentlicht: "Fashion-Design, das vom Outdoor-Stil beeinflusst ist und sich beispielsweise im Tragen von Fleecejacken, Bauchtaschen, Windjacken, Daunenjacken, Parkas und Wanderschuhen manifestiert. Reiche Leute machen Glamping (glamouröses Camping) und kleiden sich dabei in Gorpcore-Klamotten."
Die englischsprachige "Vogue" fuhr schon einen Monat später voll auf Chens Gorpcore ab: "Gorpcore ist the new normcore". Schlagworte wie "mountain chic", "camping glam" oder "ugly pretty", mit denen der Trend erklärt werden sollte, waren allerdings willkürliche Interpretationen (wohl mit Blick auf die Damenmode, die bei Chen nur am Rande vorgekommen war), die sich nicht gänzlich mit den Intentionen des Begriffs-Urhebers deckten.
Elementarer Bestandteil des Gorpcore-Trends waren für die "Vogue" laut erster Bestandsaufnahme Fleece-Westen, wattierte Puffer-Jacken in XXL-Format, Regenmäntel oder generell alles Imprägnierte aus haltbarem, möglichst atmungsaktivem Material, Bauchtaschen, Klettverschlüsse an Accessoires oder Schuhen, Socken oder Trekking-Sandalen. Ganz im Sinne der "Vogue" ließe sich diese Must-have-Liste auch noch erweitern um Parkas, Windjacken, Anoraks, Rucksäcke, Cargotaschen, Dickies, Vans, Baseball-Kappen, Wanderschuhe, Sonnenbrillen (mit UV-Schutz und polarisiert gegen Regen), Halstücher, Sport-Unterwäsche, Leggings...
Anschein erwecken, man würde campen wollen
Keinesfalls mochte es die "Vogue" zulassen, dass die Designer zugunsten der traditionellen Outdoor-Brands wie North Face oder Patagonia bei Gorpcore außen vor bleiben sollen. Schließlich sei der Trend längst auch schon im modernen Großstadtdschungel bei Streetstyle-Stars und Promis angekommen und habe auch schon Eingang in die Kollektionen der Luxuslabels gefunden. Von Célines Birkenstock-Neuinterpretationen über Margaret Howells Socken in Sandalen oder Marques Almeidas Puffer-Jacken bis hin zu Balenciagas und Vetements Riesenjacken oder dem aktuellen Riesenangebot an Designer-Fanny-Packs. Man könnte auch noch für die Damenmode Kenzos oder Stella McCartneys Regenmäntel ergänzen. Und in der aktuellen Herren-Sommerkollektion auf Hiker-Inspirationen bei Nasir Mazhar, Versace, Dior Homme, Hood by Air oder Balmain hinweisen.
Die "Vogue" riet dazu, für den perfekten Gorpcore-Look spielerisch Designer-Teile, zu deren Herstellung technisch-funktionale Materialien in früher nie gekanntem Ausmaß verarbeitet wurden, mit Klamotten der klassischen Outdoor-Labels zu mischen. Natürlich müsse niemand anschließend so gerüstet tatsächlich den womöglich beschwerlichen Weg über Feld und Stein einschlagen oder gar im unbequemen Campingzelt übernachten. Es genüge vollkommen, mit dem Outfit den Anschein zu erwecken, dass man/frau es rein theoretisch tun könnte. Obwohl es in diesem Fall mehr als unwahrscheinlich sein dürfte, dass die Designer-Klamotten den Härte- und Praxistest unter extremen Bedingungen in der freien Natur bestehen würden. Immerhin: Bei Lanvin waren Karabinerhaken und Seile inklusive, vielleicht doch etwas für Bergkletterer.
Von Ursula Lübke