In den 90er-Jahren waren Piercings ein Kennzeichen der Punker-Szene. Nachdem Givenchy den Gesichtsschmuck vor zwei Jahren laufstegtauglich gemacht hatte, haben ihn inzwischen auch andere Labels und Promi-Ladys für sich entdeckt.
Sie gilt schon seit mehr als 20 Jahren als weltweit unumstrittene Nummer eins im Make-up-Business: Die gebürtige Britin mit jamaikanischen Wurzeln namens Pat McGrath. Bei den großen Fashion Weeks pflegt sie mit einem handverlesenen, bis zu 50 Personen starken Team anzureisen, um aus ihren zahllosen, randvollen Koffern nicht nur Foundations, Puder, falsche Wimpern oder Lippenstifte hervorzukramen, sondern auch ungewöhnliche Materialien wie Federn, Blütenblätter, Spitzenteile oder Latex, die sie in einem wohldurchdachten Mix an den Augen oder Lippen der Models befestigt.
Als sie für die Frühjahr-Sommer-Kollektion 2014 von Givenchy aufwendig-opulente Gesichtsmasken aus Gold, Perlen, Spitze oder Perlenstickerei entwarf, sorgte sie, ebenso wie mit vergleichbaren Teilen oder (scheinbar) zugetackerten Lippen, bei der Präsentation der Givenchy Herren-Herbst-Winterkollektion 2015/2016 für jede Menge Aufsehen. Auch wenn diese aufgeklebten Maskenteile, die die Gesichter nahezu komplett verhüllten, natürlich abseits des Catwalks als absolut untragbar angesehen werden mussten.
Wenig tragbar abseits des Catwalks
Aber Givenchy und seinem Chefdesigner Riccardo Tisci gebührt eindeutig das Verdienst, den Gesichtsschmuck, der zuletzt in den 90er-Jahren Hochkonjunktur hatte, wieder salonfähig gemacht zu haben. Auch wenn die kunstvollen Kreationen von Pat McGrath seit Givenchys Damen-Herbst-Winter-Kollektion 2015/2016 nur noch entfernt an die Piercings oder Tattoos der Punkrockszene rund um die Ramones erinnern. Aber dank Pat McGrath sind heute wieder Bindi (aufgeklebte Schmucksteine) oder Nasen-Piercings (Septum) mega-angesagt, nachdem die beiden aus der indischen Hindu-Religion abgeleiteten Schmuckdetails bereits in den 90ern durch Gwen Stefani (Bindi) in deren "Tragic Kingdom"-Ära und Jean Paul Gaultier 1994 auf dem Catwalk bekannt gemacht worden waren.
Die deutsche "Vogue" hatte Givenchys letztjährige Gesichtsschmuck-Offensive rundum wohlwollend kommentiert: "Mit Schmuck holen Designer in der Herbst/Wintersaison 2015/16 die Antike in die Gegenwart. Mit dem Gesichtsschmuck Chola Victorian etwa vereint Designer Riccardo Tisci bei Givenchy lateinamerikanische und europäische Schmuck-Kultur. Die opulenten Kreationen, die Make-up-Artist Pat McGrath in sechs Stunden langer Hingabe den Models für die Runway-Show in Paris aufsetzte, sind ab sofort in ausgewählten Stores zu haben." In vielen anderen Publikationen hielt sich die Begeisterung in Grenzen, um es mal vorsichtig zu formulieren. Die "Gala" beispielsweise sprach von "schockierenden Piercings". Und so ganz unrecht hatte die "Gala" nicht: "Befremdliche Wirkung bei Givenchy auf dem Laufsteg: Dunkle Schmuckstücke durchbohren Ohren und Nase, weitere funkelnde Steine wurden im Piercingstil auf die Haut geklebt." Eigentlich war das des Guten zuviel. Kein Wunder daher, dass zwar eine ganze Reihe von Labels in der aktuellen Winterkollektion das Thema Gesichtsschmuck ebenfalls aufgegriffen hat, aber nur in einer deutlich reduzierten Variante.
Dass sich Promi-Ladys wie Rihanna, Lady Gaga oder Kendall Jenner für den "Bullenring", wie das durch die Nasenscheidewand gestochene Septum-Piercing despektierlich genannt wird, begeistern würden, war eigentlich zu erwarten. Zumal sie offenbar nicht den schmerzvollen Weg in ein Studio auf sich genommen, sondern sich für die Septum-Fake-Version entschieden hatten. Diese lässt sich einfach an der Nase einklemmen und sieht doch täuschend echt gestochen aus. Die Fake-Septums können schon für wenige Euros zum Ausprobieren des Schmucktrends erworben werden (um Allergien zu vermeiden, ist man mit Chirurgenstahl auf der sicheren Seite). Und sie hinterlassen beim Nichtgefallen im Unterschied zu echten Piercing-Löchern keinerlei Spuren. Wenn der Ring nur an einem Nasenflügel befestigt ist, wird er übrigens Nostril genannt. Auf dem Catwalk für die aktuelle Wintersaison war der Nostril beispielsweise zu sehen bei Models von Gucci, das Septum beispielsweise bei Alexander Wang. Beim Label Koché wurde ein großer Nostril mit einem Ohrring direkt mit einem Kettenglied verbunden. Wobei Fake-Piercing am Ohr oder an der Augenbraue genauso gut funktioniert wie an der Nase.
Oder auch am Philtrum, der Rinne zwischen Nase und Oberlippe, wo neuerdings die trendige Silberkugel des Medusa-Piercings ihren Platz findet (auf Instagram derzeit der absolute Renner).
Ein echtes Stechen ist zwar für 40 bis 50 Euro nicht sonderlich teuer, aber extrem schmerzhaft, da am Philtrum viele Nerven verlaufen, und die Heilung kann an dieser Stelle bis zu zehn Wochen dauern. Zudem warnen Zahnärzte davor, dass der Stecker des Schmucks leicht Zahnfleisch und Zahnschmelz schädigen kann. Von daher dürfte eine Fake-Variante die bessere Wahl sein. Dabei ist der Glitzerstein mit einer magnetischen Rückseite ausgestattet und wird mit Hilfe eines Magnetgegenpols an der Lippeninnenseite an der gewählten Position gehalten. Wer einen etwas persönlicheren Stil möchte, kann statt dem mittigen Medusa-Piercing auch die Alternativen Monroe (Perle auf der rechten Seite) oder Madonna (Perle links vom Philtrum) ausprobieren.
Bindis erfreuen sich derzeit vor allem auf Festivals oder Open-Air-Events großer Beliebtheit. Laut stylebook.de waren sie eines der begehrtesten Schmuck-Accessoires auf dem legendären Coachella-Musikfest in Kalifornien. Wobei viele Stars wie Bloggerin Chiara Ferragni statt den runden Klebesteinchen Bindis in Smiley-Gestalt im Gesicht trugen. Und natürlich hat sich niemand mehr darum geschert, dass in Indien ursprünglich nur ein einziges funkelndes Steinchen zwischen den Augen aufgeklebt war. Die Glitzersteinchen lassen sich übrigens super mit einem Make-up-Kleber fixieren. Sie können beispielsweise online ab zehn Euro bei bindibabeuk.com bestellt werden. Das Label John Richmond hat seine Models mit goldfarbenen, an der Nasenwurzel platzierten Bindi-Schmucksteinen über den Laufsteg stolzieren lassen.
Bei Charlotte Olympia zierten hingegen Sternenapplikationen die Wangen der Mannequins, bei Anthony Vaccarello wurde ein Cat-Eye-Effekt erzielt, dank entsprechend in den Augenwinkeln aufgeklebter Glitzersteine. Und bei Emilio de la Morena war der kreative Einfall von schwarzen Spitzen-Augenbinden zu bestaunen. Sicherheitsnadeln wurden gottlob nicht in Piercing-Gestalt gesichtet, stattdessen waren sie zu Halsketten (bei Céline), Broschen (Isabel Marant) oder Ohrringen (bei Balenciaga oder Sonia Rykiel) verarbeitet.
Zum Schluss muss noch ein neuer Mega-Gesichtsschmuck-Trend unbedingt erwähnt werden, weil er von den meisten Make-up-Artists aufgegriffen wurde: der Glitter-Effekt, der zuletzt in den 80er-Jahren angesagt war. Der ist sogar bei Burberry zu sehen, dem Label, bei dem frau das wohl am wenigsten erwarten würde. Aber bei den Briten waren Lider und Wangen der Models mit goldfarbenen Glitterpartikeln bestäubt. Bei Giambattista Valli funkelten die Augenbrauen gülden. Auch Kenzo, Saint Laurent oder Opening Ceremony mischten munter bei diesem Trend mit.
Peter Lempert