Die Regierung hat keinen Plan, das Oberste Gericht noch Beratungsbedarf, und der EU-Botschafter ist nicht mehr im Dienst. Für Premierministerin Theresa May kein guter Start in ein Jahr, in dem sie den Austritt Großbritanniens aus der EU auf den Weg bringen soll.
In halbwegs normalen politischen Zeiten hätte es der Rücktritt des britischen EU-Botschafters Ivan Rogers wohl auf die Titelseiten bringen können. Erst recht wenige Wochen, bevor der historische Austritt namens "Brexit" offiziell gestartet werden soll. So blieb er eher Randnotiz. Wie ohnehin derzeit dieser durchaus historische Vorgang zwischen den Bildern des zerbombten Aleppo, der Twitter-Politik eines gewählten Präsidenten und dem innenpolitischen Streit um innere Sicherheit in Deutschland fast ganz aus dem Blickfeld gerät.
Mit dem Wort "historisch" sollte man behutsam umgehen. Der Ausstieg eines Mitgliedlandes aus der EU hat dieses Attribut allerdings unzweifelhaft verdient. Ebenso wie die Ratlosigkeit so gut wie aller Beteiligten darüber, wie dieser Prozess gestaltet werden könnte, müsste. Eine Blaupause gibt es nicht. Dafür viele ebenso blumige wie unkonkrete Sprechblasen.
"Eine neue kühne Rolle für uns erfinden"
Etwa die Ansprache der britischen Premierministerin Theresa May zum ersten Weihnachtsfest nach der Brexit-Abstimmung. "Wenn wir die Europäische Union verlassen, müssen wir eine historische Gelegenheit nutzen, für uns eine neue kühne Rolle in der Welt zu erfinden und unser Land zu einen". Dass solche Sätze klingen wie das berühmte Pfeifen im Wald, liegt schlicht daran, dass auch mehr als ein halbes Jahr nach dem Brexit-Votum die neue Regierung wenig zu bieten hat, was man sonst auf den Gabentisch hätte legen können.
Außer, dass gegen Ende März der Artikel 50 des EU-Vertrags aktiviert und damit die Austrittsverhandlungen offiziell gestartet werden sollen, steht reichlich wenig fest. So wie auch der Artikel selbst nur wenig Anhaltspunkte gibt, weil offenbar niemand bei der Formulierung der Verträge ernsthaft daran gedacht hat, was jetzt Realität werden soll. Selbst die im Raum stehende Zeit von zwei Jahren für Austrittsverhandlungen ist kein unumstößlicher Zeitraum, können die Mitgliedsstaaten doch (einstimmig) eine Verlängerung beschließen.
Es ist nicht einmal klar, wann die Briten ihre offizielle Mitteilung in Brüssel abgeben, was allerdings derzeit nicht an der Regierung liegt, sondern am Obersten Gericht in London. Die Richter müssen entscheiden, ob die Regierung selbstständig den Zeitpunkt festsetzen kann, oder ob das Parlament darüber befinden muss. Im November hatte nämlich ein Gericht sozusagen in erster Instanz überraschend entschieden, dass die Abgeordneten beteiligt werden müssen.
Sollte der Supreme Court das bestätigen, dürften wohl die Gegner eines Brexit im Parlament alles daran setzen, Bedingungen für Verhandlungen zu stellen und den Beginn so lange wie möglich hinauszuzögern.
Mit Ivan Rogers ist jetzt einer von Bord gegangen, über den die Vorsitzende des Brexit-Ausschusses im britischen Parlament, Hilary Benn, sagt: "Es ist nicht gut, dass wir überraschend unseren wichtigsten Mann in Brüssel verlieren". Rogers kennt sich aus im Verhandlungsdschungel. 2013 war er vom damaligen Premier David Cameron als oberster Diplomat nach Brüssel geschickt worden und hat dort den Deal ausgehandelt, mit dem Cameron hoffte, das riskante EU-Referendum gewinnen zu können. Dass das gründlich schiefging, lag kaum an dem maßgeblich von Rogers vorbereiteten Reformdeal, das im populistischen Referendumsgetöse ohnehin kaum noch eine Rolle spielte.
Brexit-Befürworter weinen dem unerwarteten Diplomaten-Abgang keine Träne nach, galt Rogers doch als Befürworter eines Verbleibs in der EU. Die Ausgangslage hat sich für Theresa May dadurch allerdings nicht gerade verbessert. War Rogers doch einer der wenigen britischen Spitzenbeamten, die wissen, wie die EU tickt, meint Charles Grant. Er ist Direktor des "Centre for European Reform", einer britischen Interessengruppe, die sich für eine Reform der Union wegen zu vieler Regelungen und zu großer politischer Einflussnahme auf das Vereinigte Königreich stark gemacht, aber zugleich auf die engen wirtschaftlichen Verflechtungen hingewiesen hat. Mit dem Brexit werden auch solche Lobby-Gruppen zuerst ihren Einfluss und dann wohl auch ihre Existenzberechtigung verlieren.
Noch ist unklar, ob auch dem Finanzplatz London ein ähnliches Schicksal droht. Ob die ersten euphorischen Hoffnungen des deutschen Finanzplatzes Frankfurt in Erfüllung gehen, ist noch nicht zwingend ausgemachte Sache. Erste Umzüge seien zwar schon registriert worden, meinte Hubertus Väth im Spätherbst vergangenen Jahres. Der Geschäftsführer von Frankfurt Main Finance, dem Sprachrohr des größten deutschen Finanzplatzes, ging eher davon aus, dass es "große Bewegungen erst ab dem zweiten Halbjahr 2017" geben würde. Aber auch der Luxemburger Finanzplatz hat große Erwartungen. Nach den Skandalen und dem Ende des Bankgeheimnisses sei der Finanzplatz entgegen allen Erwartungen inzwischen besser dran denn je, befand Finanzminister Pierre Gramegna kurz vor Jahreswechsel. Und Nicolas Mackel, Chef der Finanz-Promotionsagentur Luxembourg for Finance LFF wird mit dem Understatement zitiert: "Wir müssen uns in London nicht bewerben. Wir werden gefragt." Er ging allerdings nicht davon aus, dass London ganz aufgegeben würde. Aber vor allem Gesellschaften, die bislang nur ein Standbein auf der Insel hatten, würden nun ein zusätzliches auf dem Kontinent aufbauen wollen. Will heißen, es wäre wohl kaum mit einem Umzug ganzer Hundertschaften zu rechnen. Eine nüchterne Betrachtung, die sich auch in Frankfurt und Paris inzwischen durchsetzt.
Brexit-Verhandlungen brauchen viel Energie
Für die Europäische Union selbst kommt die erste Austrittsoption in der Geschichte sowieso zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Neben den ohnehin bekannten massiven Herausforderung werde die EU nun "erhebliche Energien in die anstehenden Verhandlungen lenken müssen, die für die Bewältigung anderer aktueller Krisen dann nicht zur Verfügung" stünden, befand Thomas Giegerich, Direktor des Europa-Instituts an der Universität des Saarlandes. Der saarländische Europaabgeordnete Jo Leinen (SPD) geht davon aus, dass dieses Jahr insgesamt zu einem "Schicksalsjahr für die Europäische Union" werden dürfte. Die EU müsse insgesamt "handlungsfähiger und zielorientierter" werden.
60 Jahre nach Unterzeichnung der "Römischen Verträge", der Grundlage der heutigen EU, fordert er eine "große Debatte über die Zukunft der Europäischen Einigung", einen "Konvent" über die grundlegenden Entwicklungen.
Nur dürften weder diese grundlegenden Reformanstöße noch unmittelbare Verhandlungsschritte in absehbarer Zeit sonderlich Chancen auf Umsetzung haben. Schließlich stehen große nationale Wahlkämpfe ins Haus, bei denen mitentschieden wird, wie stark künftig national-populistische Parteien und Strömungen den Weg oder die Wege in Europa beeinflussen. Den Auftakt machen im März die Niederlande, es folgen Frankreich und schließlich im Herbst Deutschland.
Oliver Hilt