Was die gesetzlichen Krankenkassen nicht mehr schaffen, versprechen kleine Solidarvereine: Sie verstehen sich als transparente, menschliche Alternative zu gesetzlichen und privaten Versicherungen in einem profitorientierten System. Dennoch fristet die Idee ein Schattendasein.
Alle zwei Monate sind sie in München fest verabredet: Zwölf Menschen, die sich kennen, weil sie die gleiche Krankenversicherung haben: den Solidarverein Samarita. Mal treffen sie sich im Bürogebäude eines großen Verlages, mal trinken sie Punsch zu Hause. Und manchmal gehen sie zusammen wandern.
113 gesetzliche Kassen verzeichnen 71 Millionen, 44 private neun Millionen Versicherte in Deutschland. Wie das System funktioniert, interessiert kaum jemanden solange es wenig kostet und möglichst alles bezahlt wird. Solidarvereine mit circa 22.000 Mitgliedern wissen jedoch, wie ihr System funktioniert, sie haben es selbst entwickelt. Diese Vereine sind in Deutschland weitgehend unbekannt, und das, obwohl sie Therapiefreiheit versprechen und unter Umständen sogar weniger kosten als die Platzhirsche am Markt. Die Grundidee: Die Solidargemeinschaft organisiert sich und die Ausgaben der Gesundheitsversorgung selbst. Regionalgruppen wie in München garantieren Überschaubarkeit. Tobias Küpper ist einer der zwölf Solidarversicherten aus München. "Während man als Versicherter bei den herkömmlichen Kassen lediglich einen Kostenfaktor darstellt, ist man hier Mensch", sagt er. "Man hört sich zu, ist füreinander da und bespricht politische und organisatorische Veränderungen des Vereins." Mit einem Teil seiner Beiträge zahlt er die homöopathische Behandlung seiner Neurodermitis, die von Kassen nicht übernommen wird. Der andere Teil der Beiträge geht in einen Solidarfonds, der größere Kosten bei schwerwiegenden Erkrankungen von Vereinsmitgliedern abdecken soll. Neu ist der Ansatz nicht, vor knapp 100 Jahren gründeten zum Beispiel Pfarrer und Polizisten berufsständische Unterstützungskassen, die es bis heute gibt. Ende der 90er-Jahre entstanden dann offene Vereine, die Samarita, Solidago oder Artabana heißen.
Ausstieg aus
dem System
Es geht auch ein bisschen ums Aussteigen aus dem gesetzlichen System. Vor 20 Jahren fanden sich acht Gründungsmitglieder von Samarita in Bremen zusammen. Der Grund: Unzufriedenheit. Sie überlegten, wie Versicherung anders funktionieren könnte und alternative Behandlungen jenseits der Schulmedizin bezahlt würden. "Die größten Probleme sind bis heute die zunehmende Anonymität, Bürokratisierung und Ökonomisierung des Gesundheitswesens", heißt es bei der Samarita. Die Einwände sind nicht unberechtigt. Der Verband gesetzlicher Kranken- und Pflegekassen (GKV) spricht selbst von Finanzierungsdruck, einer Tendenz zu steigenden Beiträgen, auch wenn 2017 deutlich weniger Kassen ihren Zusatzbeitrag erhöht haben. Das liegt an 1,5 Milliarden Euro, die die Politik zusätzlich aus dem Gesundheitsfonds verteilt ein Einmaleffekt. Nicht nur die Kosten steigen, auch der Eindruck einer unvollständigen Versorgung verdichtet sich: Zahnreinigung, Akkupunktur, Stoßwellentherapie sind Beispiele für individuelle Gesundheitsleistungen (iGeL). Ärzte dürfen sie verschreiben, zahlen müssen Patienten selbst schon werden sie zum Kunden. Die GKV rät hierbei zur Vorsicht, verweist auf ihren ständig wachsenden Leistungskatalog. Dort steht, was die Kassen bezahlen. Es findet nur Eingang, was vorher geprüft wurde. Im Umkehrschluss bedeutet das: Was nicht in den Katalog übernommen wird, hilft laut GKV wahrscheinlich nicht. Doch ein Leistungsverzeichnis verrät nicht immer, was ein kranker Mensch zur Heilung braucht.
Die Gründung von Samarita fällt gerade in die Zeit, als die Politik die Krankenkassen in den marktwirtschaftlichen Wettbewerb geschickt hat. Gegenseitige Hilfe dürfe kein Geschäft sein, so Samarita. Andererseits müssen Krankenkassen steigende Kosten mit der Forderung niedriger Beitragssätze zusammenbringen. Deswegen geht es auch nicht ohne Mitgliederwerbung: Bei der DAK hat man 2014 sogar einen eigenen Popsong schreiben lassen. Die DAK zählt zu den Kassen mit den höchsten Verwaltungskosten. Bei 112 Mitbewerbern tut jedes verlorene Mitglied weh.
Gerade gesundheitsbewusste Menschen sind eine lukrative Zielgruppe. Daher liegt die Vermutung nahe, dass die Solidargemeinschaften aus Sicht der übrigen Kassen eine lästige Konkurrenz darstellen. Bei der GKV glaubt man jedenfalls nicht daran, dass das Modell für größere Gruppen funktioniert: "Der altruistische Grundgedanke ist theoretisch bestechend, in der Praxis stößt ein solcher Ansatz aber relativ schnell an seine Grenzen", heißt es auf Anfrage. Das Potenzial läge vielmehr in einer "ergänzenden Gemeinschaft, die die Erkrankten im privaten Umfeld mit Empathie auffängt und umsorgt". Überhaupt scheint die Idee der Eigenverantwortung in einem so komplexen Umfeld wie dem Gesundheitssystem zu befremdlich, als dass sie die gesetzlichen Verteilungsmechanismen ablösen könnte. Doch die Kultur der Eigenverantwortung behauptet sich. Von Sharing Economy bis zum Achtsamkeitstrend, es ist diese Welle, auf der die Solidarvereine mitschwimmen. "Verantwortung für sich zu übernehmen, ist ein riesiges Thema, das am Ende mit vielen Dingen zusammenhängt", sagt Tobias Küpper. "Das ist mein Leben, mein Körper, und kein Arzt kann mir am Ende die Mühe abnehmen, auf meine Haltung zu achten oder mich gesund zu ernähren. Diese Erkenntnis ist entscheidend. Wir bringen den Mut auf, uns aus vermeintlichen Sicherheiten zu lösen und erkennen, dass wir was bewirken können." Doch Vereinen wie Samarita bläst juristischer Wind entgegen. Seit 2007 schreibt das Gesetz vor, dass jeder in einer Krankenkasse Mitglied sein muss, es sei denn, man habe "anderweitigen Anspruch auf Absicherung". So steht es im Sozialgesetzbuch. Doch Samarita scheinen diesem Passus nicht mehr zu genügen. "Seit März 2011 läuft vor den Sozialgerichten ein Musterprozess, in dem es um die Frage geht, ob die Mitgliedschaft bei uns als anderweitige Absicherung im Krankheitsfall anerkannt wird", erklärt die Pressestelle. Die Klägerin ist eine Frau, die wechseln wollte, aber nicht aus ihrer bestehenden Versicherung bei der Barmer/GEK rauskam. Nun wird sie von Ex-Bundesinnenminister Otto Schily vor Gericht vertreten.
GKV nicht überzeugt vom Solidarmodell
Die Leistungsstarken für die Schwachen das ist die Idee der Solidarität, die alle Versicherungen in sich tragen. "Solidarität erleben, Vertrauen spüren", heißt auch der Slogan von Samarita. Solange Gesetze und Zahlen das untergraben, scheint am Ende wenig davon spürbar.
Sinah Müller
INFO: Die wichtigsten Fakten zu Samarita
Wie funktioniert die Versorgung?
Die Mitglieder zahlen einen monatlichen Beitrag. Ein Teil geht auf ein persönliches Mitgliedskonto (Individualkonto). Der übrige Beitrag wandert in den Solidarfonds, aus dem aufwendige Behandlungen bezahlt werden, die den Einzelnen finanziell überfordern würden. Es heißt, alle Mitglieder haben einen verlässlichen Anspruch auf eine Krankenversorgung mindestens auf dem Niveau der Gesetzlichen Krankenversicherung, jedoch ohne die Einschränkungen eines festgelegten Leistungskatalogs. Wer in einer gesetzlichen Krankenversicherung Pflichtmitglied ist, kann momentan nicht wechseln; freiwillig Versicherte schon. Als Zusatzversicherung ist die Mitgliedschaft nicht möglich.
Wie setzen sich die Beiträge zusammen?
Die Höhe des Beitrags richtet sich nach dem Einkommen und der Anzahl der mit abgesicherten Familienangehörigen. Alter und Gesundheitsrisiken spielen keine Rolle. Ein Paar mit zwei Kindern und einem Brutto-Einkommen von 3.000 Euro zahlt zum Beispiel einen Beitrag von 525 Euro.
Was machen die Regionalgruppen?
Sie sind das Kernstück der dezentralen Vereinsstruktur und gestalten ihre Arbeit selbst. Derzeit gibt es elf Gruppen in Deutschland. Über seine persönlichen Krankengeschichten muss man nicht berichten. Die Treffen finden drei bis sechs Mal jährlich statt. Die dem Saarland nächstgelegene Gruppe befindet sich in Frankfurt am Main.
Was passiert, wenn ich krank werde?
Wie bei einer Privatversicherung reicht man die Arztrechnungen und Behandlungskosten zentral bei der Geschäftsstelle in Bremen ein. Hier werden alle Krankheitsfälle unter Wahrung der persönlichen Anonymität zentral geregelt.
Was passiert bei sehr hohen Kosten, etwa bei Krebsbehandlungen?
Dann greift der Solidarfonds. Der Vorstand entscheidet und stimmt sich mit entsprechenden Fachkräften ab. Streitfälle gab es bisher nicht. Es existiert zusätzlich eine Rückdeckungsversicherung des Dachverbandes der Solidargemeinschaften (BASSG).