Die Positive Psychologie will den Menschen glücklicher machen. Damit scheint sie den Zeitgeist zu treffen. Über den Boom einer modernen Forschungsrichtung.
Ein Rosengarten irgendwo in den Vereinigten Staaten von Amerika. Martin Seligman jätet Unkraut. Seine fünfjährige Tochter Niki soll ihm helfen, doch das Kind tanzt lieber im Blumenbeet und spielt mit Schnecken. Seligman fährt aus der Haut, schreit sie an. Daraufhin erklärt ihm das Mädchen, sie sei jahrelang eine Heulsuse gewesen, bis sie eines Tages beschlossen habe, nicht mehr wegen jeder Kleinigkeit los zu weinen. "Das war das Schwierigste, was ich je gemacht habe. Und wenn ich aufhören kann zu weinen, kannst du auch aufhören zu schimpfen und zu schreien." Eine Anekdote, die Seligman so immer wieder erzählt. Denn dieser Augenblick wird zum Meilenstein der Positiven Psychologie, Martin Seligman zu ihrem Vorreiter.
Seligman ist Psychologe, hat zu dem Zeitpunkt schon jahrzehntelang klinisch geforscht und gearbeitet. Depression, Alkoholismus, Schizophrenie, Trauma, kurz: sämtliche Inhalte eines medizinischen Krankenmodells. Er selbst spricht später von "der Reparatur des Patienten", seiner "beschädigten Gewohnheiten, beschädigten Antriebe, beschädigten Kindheit und beschädigten Gehirne". 1998 wählt man ihn zum Präsidenten der American Psychological Association (APA), eine der größtmöglichen Ehren für amerikanische Psychologen. In seiner Antrittsrede fordert Seligman, die Psychologie solle sich auf ihr "Geburtsrecht" besinnen und sich mit der Erforschung positiver Emotionen, Eigenschaften und Gemeinschaften befassen. Nicht nur Krankheit und Defizit sollen im Fokus stehen, sondern das, was das Leben lebenswert macht. Fortan fließen die Forschungsgelder, die Positive Psychologie wird zur empirischen Wissenschaft.
Besinnung auf "Geburtsrecht"
Die These: Die Abwesenheit von Leiden ist nicht gleich Glück, sondern Leere. Die zu füllen, macht sich die Positive Psychologie zur Aufgabe und scheint damit den Zeitgeist zu treffen. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stehen Depressionen in Ländern mit mittlerem oder hohem Einkommen an erster Stelle der sogenannten Krankheitslast. Die umfasst sowohl durch Tod verlorene als auch krankheitsbedingt beeinträchtigte Lebensjahre. Vier Millionen Menschen sind allein in Deutschland betroffen. In Europa erleben 25 Prozent der Bevölkerung in einem Jahr Depressions- oder Angstzustände. Dadurch entstehen Kosten von 170 Milliarden Euro pro Jahr. Die Gesundheitssysteme der Europäischen Region stehen vor einer Herausforderung. Die Menschen der "Ersten Welt" sind nicht glücklicher als vor einigen Jahrzehnten. Und das, obwohl sie so reich, gesund und sicher leben wie nie zuvor. Eine Gesellschaft im Wohlstand, aber ohne Wohlgefühl. Was kann die Positive Psychologie ihr tatsächlich anbieten?
Der Begriff der Positiven Psychologie geht zurück auf den US-amerikanischen Psychologen Abraham Maslow, der ihn bereits 1954 prägte. Etwa 20 Jahre später, 1975, entdeckte sein Kollege Mihály Csikszentmihalyi einen Zustand, in dem intensive Glücksgefühle entstehen: den Flow. Der Mensch verschmilzt mit seiner Tätigkeit, vergisst die Zeit und sich selbst, äußere Anforderungen und persönliche Fähigkeiten sind im Gleichgewicht. In diesem Zustand fühlt er sich glücklich und losgelöst von allen Problemen. Der heutige Boom aber wurde erst durch die Wahl Seligmans ausgelöst. Nach ihm ist die Positive Psychologie die Wissenschaft vom gelingenden Leben. Drei Säulen stehen im Mittelpunkt: die Erforschung positiver Emotionen, positiver Strukturen und eines positiven Charakters. Ziel ist es herauszufinden, wie der Mensch sein Potenzial voll ausschöpfen kann. Wie er mit Hilfe von positiven Emotionen zu mehr Wohlbefinden kommen kann. Wie er seine Charakterstärken nutzt, um erfolgreich zu sein und gute Beziehungen zu führen. Und wie er so letztlich auch gewappnet durch Krisenzeiten gehen kann. Freude, Genuss, Glück, Zufriedenheit, Gelassenheit, kurz: Das Spektrum des positiven Gefühlsleben ist Gegenstand der jungen Wissenschaft. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, Erkrankungen zu heilen. Vielmehr richtet sich die Positive Psychologie auch an all diejenigen, denen es bereits ganz gut geht. Es gehe nicht mehr nur darum, Schäden zu begrenzen und von minus acht auf minus zwei der Befindlichkeitsskala zu kommen, sondern wie wir uns von plus zwei auf plus fünf verbessern können, so Seligman.
Die Wissenschaft vom gelingenden Leben
Der Mensch soll aufblühen, denn die Abwesenheit von Krankheit sei nicht mit Gesundheit gleichzusetzen. In einer Studie mit über 3.000 Amerikanern fand der Forscher Corey Keyes heraus, dass etwa zwei von zehn Erwachsenen im Zustand des sogenannten Flourishing, dem Aufblühen, leben. Diese Menschen sind psychisch voll leistungsfähig. Das heißt, sie sind per WHO-Definition "liebes-, arbeits- und genussfähig". Keyes schreibt, sie leben statt bloß zu überleben.
Etwa 60 Prozent beschrieben sich als mittelmäßig zufrieden und zwölf Prozent fühlten sich kaum wohl und waren in ihrer psychischen Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Flourishing soll zu mehr Wohlbefinden, aber auch zu mehr Leistungsfähigkeit und damit zu mehr Produktivität führen. In Europa wurde bislang keine ähnliche Studie durchgeführt. Experten gehen jedoch davon aus, dass die Situation vergleichbar sei.
Aber auch Kritiker lassen nicht lange auf sich warten. Die US-Journalistin Barbara Ehrenreich schreibt, alleine die magischen drei Wörter "Studien haben gezeigt..." würden der Positiven Psychologie Geld in die Kasse spülen, verkaufe sie doch dadurch unzählige Selbsthilfebücher und Motivationstrainer. Sie zweifelt verschiedene dieser Studien an. Sind die Menschen beispielsweise gesund, weil sie gut gelaunt sind? Oder könnte es nicht auch andersrum sein? Ihr Buch trägt übrigens den Titel "Smile or die" (Lächle oder sterbe). Und tatsächlich schreiben auch andere Kritiker über den Druck, glücklich zu sein. Über den Zwang zum Optimismus, zum nervigen Dauergrinsen. Dem setzt die Positive Psychologie entgegen, man wolle keine "Happylogie" betreiben. Das Negative solle nicht ausgeschlossen, sondern in einen anderen Rahmen gesetzt werden. Dennoch steckt die Forschung in den Jugendjahren und wirft auch ungeklärte Fragen auf. Aber auch damit befassen sich die Positiven Psychologen Ziele braucht der Mensch. Und Martin Seligman formuliert sein "Moonshot Goal", sein unmögliches Ziel, ganz klar: Bis zum Jahr 2051 sollen mindestens 51 Prozent der Weltbevölkerung ein blühendes Leben führen.
Aber wie genau kann der Mensch sein Glück gestalten? Wie kann er "aufblühen"? Die Verfechter der Positiven Psychologie haben auf Grundlage ihrer Forschungsergebnisse verschiedene Übungen entwickelt. Ein Glücksportfolio zum Beispiel soll positive Emotionen in Gang bringen. Die Idee dahinter: genauso wie eine Abwärtsspirale, gibt es auch eine Aufwärtsspirale, in die der Mensch sich bringen kann.
Übung Das Glücksportfolio
Nehmen Sie eine große Mappe und tun Sie alles hinein, was Sie zufrieden macht oder was Erfolge symbolisiert. Fotos, Briefe, Postkarten, Flugtickets, Erinnerungsstücke. Sehen Sie sich den Inhalt jede Woche an. Tun Sie das vor allem auch dann, wenn Ihre Stimmung sinkt.
Ein Forschungsschwerpunkt der Positiven Psychologie liegt auf Charakterstärken. Die Psychologen befassen sich damit, was guten Charakter ausmacht und wie man ihn messen kann. Sie haben 24 Charakterstärken entdeckt, die im Zusammenhang mit Lebenszufriedenheit stehen. Dazu zählen beispielweise Loyalität, Weisheit und Tapferkeit. Wer auf seine Stärken setzt statt immerzu an seinen Schwächen zu arbeiten, lebt in Beruf und Freizeit zufriedener. Besonders große Zusammenhänge fanden die Forscher bei Neugier, Bindungsfähigkeit, Dankbarkeit, Humor, Ausdauer und Enthusiasmus.
Übung Die eigenen Stärken erkennen
Wissen Sie eigentlich, worin Sie richtig gut sind? Finden Sie es heraus, zum Beispiel mit dem Stärkentest der Universität Zürich unter www.charakterstaerken.org. Überlegen Sie, ob sie dadurch "schlafende Stärken" gefunden haben und wo Sie diese einsetzen können. Vielleicht gibt es auch neue Felder für bereits bekannte Stärken, oder Sie können mehrere kombinieren und Synergieeffekte erzielen.
Getreu dem Motto "Glück bedeutet nicht, dass man bekommt, was man will. Glück bedeutet, dass man zu schätzen weiß, was man hat" empfehlen die Forscher, sich in Dankbarkeit zu üben. Sie raten, sich im Alltag zu bedanken für den guten Service, die freundliche Bedienung, den Kaffee am Morgen. Wer dankbar ist, richtet seinen Blick auf die positiven Aspekte in seinem Leben. Dazu haben sie zum Beispiel das Dankbarkeitstagebuch entwickelt.
Übung Drei gute Dinge
Schreiben Sie mindestens eine Woche lang jeden Abend drei Dinge auf, die heute gut für Sie liefen und überlegen Sie, warum das so war. Bei dieser Übung ist es wichtig, dass man die Dinge tatsächlich aufschreibt und nicht bloß im Kopf durchgeht. Es können sowohl kleine Dinge (mein Arbeitskollege hat mir heute Kaffee gemacht) als auch große Dinge (ich habe meine Promotion abgeschlossen) sein.
Zahlreiche Übungen haben sich Psychologen bereits überlegt. Es gibt die sogenannte Positive Psychotherapie und unterschiedliche Konzepte für spezielle Situation. Für junge Menschen in Schulen zum Beispiel, für Soldaten und Langzeitarbeitslose. In den USA, Australien und England bieten Universitäten komplette Ausbildungsprogramme an. Auch in Deutschland können Interessierte Kurse belegen, das Fach ist hierzulande allerdings nicht vergleichbar etabliert.
Laura Kutsch
Zur Person:
Martin Seligman wurde 1942 in New York geboren. Er ist Psychologe und Direktor des Zentrums für Positive Psychologie an der Universität Pennsylvania. Bekannt wurde er vor allem durch seine Forschung zur erlernten Hilflosigkeit und zur Positiven Psychologie. 1998 wurde Seligman mit der größten Mehrheit der Geschichte zum Präsidenten der American Psychological Association (APA) gewählt. Der Autor von mehr als 270 wissenschaftlichen Artikel und 20 Büchern, die in 45 Sprachen übersetzt wurden (unter anderem Flourish, Authentic Happiness, Learned Optimism) wurde vielfach für seine Arbeit ausgezeichnet und von verschiedenen Institutionen unterstützt (unter anderem National Institute of Mental Health, National Science Foundation, Guggenheim Foundation). Zur Verbreitung der Positiven Psychologie tourte er 2016 auch durch Europa.