George Gershwin, der am 11. Juli 1937 mit nur 38 Jahren verstorben ist, wird zu den größten amerikanischen Komponisten des 20. Jahrhunderts gezählt. Und doch hatte ihm gerade sein geniales Talent für populäre Lieder lange Zeit den Einzug in den Olymp der Musik verwehrt.
Beim Rumtreiben auf den schmutzigen Straßen von Manhattan erlebte ein sechsjähriger Raufbold Anfang des 20. Jahrhunderts sein persönliches Erweckungserlebnis, als er in einer Gasse Artur Rubinsteins "Melodie in F" hörte. Natürlich konnte das am 26. September 1898 in Brooklyn unter dem Namen Jacob Gershwine geborene Kind russisch-jüdischer Einwanderer sein Interesse für Musik, das etwa zur gleichen Zeit auch durch Ragtime- und frühe Jazz-Stücke des schwarzen Bandleaders Jim Europe gefördert wurde, gegenüber seinen Spielkameraden nicht öffentlich bekunden, weil er sonst als Schwächling angesehen worden wäre. Von daher musste der Junge, der schon früh aus heute unerfindlichen Gründen den Rufnamen "George" erhielt, auch sein zweites musikalisches Erlebnis im Alter von zehn Jahren für sich behalten.
Aus der Aula seiner Schule drangen die Töne von Antonín Dvo?áks "Humoreske" an sein Ohr, gespielt von dem damals achtjährigen Maxi Rosenzweig, der später als Max Rosen ein berühmter Geiger werden sollte. Mit ihm schloss George sogleich Freundschaft und durfte auch schon mal auf dessen Klavier erste Klimperversuche unternehmen. Als seine Eltern zwei Jahre später ein Piano für seinen älteren Bruder Ira kauften, stürzte sich George mit Feuereifer darauf und konnte seine Familie zur Finanzierung von Klavierstunden überreden. 1912 sollte er mit dem Virtuosen Charles Hambitzer seinen großen Förderer kennenlernen, dem George seine ausgefeilte Spieltechnik verdankte und der ihn mit den Werken von Chopin, Liszt oder Bach, aber auch mit dem uvre moderner Komponisten wie Debussy, Ravel und sogar Schönberg vertraut machte.
Bereits mit 15 Jahren "Song plugger"
Neben dem reinen Klavierunterricht ließ sich George zwischen 1915 und 1921 vom Pianisten Edward Kilenyi auch in die Harmonielehre, Musiktheorie und Instrumentation schulen. Später sollte er auch noch das Komponieren professionell studieren. Georges Begeisterung für die ernste Musik war allerdings bei Weitem nicht so ausgeprägt wie sein kaum stillbarer Drang zur populären Musik. "Der Junge ist ein Genie", sagte Hambitzer. "Er will dieses moderne Zeug spielen, Jazz und so was. Aber ich werde dafür sorgen, dass er zuerst einmal eine richtige musikalische Ausbildung bekommt."
Allen Bemühungen seines Mentors zum Trotz, brach George schon 1914 die Highschool ab, um ins lukrative Musikgeschäft einzusteigen. Sein Weg führte ihn zwangsläufig zur New Yorker "Tin Pan Alley", der 28. Straße zwischen der 5th Avenue und dem Broadway dem Sitz der amerikanischen Musikverlage und damit dem Herzen der amerikanischen Musikindustrie in einer Zeit, in der es noch kein Radio und kaum Grammofone gab. Den Spitznamen verdankte die Straße den hämmernden Klaviersounds aus den Demo-Räumen der Verlage. Diese machten ihr Geschäft mit dem Verkauf von Notenblättern, mit deren Hilfe die neuesten Schlager am heimischen Klavier nachgespielt werden konnten.
Angestellte "Song plugger" mussten die von Komponisten bei den Verlagen eingereichten Stücke im Hause vorspielen, damit potenzielle Interessenten wie berühmte Künstler, Vaudeville-Theater oder die diversen Etablissement am Broadway die neuesten Kompositionen in ihr Repertoire aufnahmen. Dadurch sollte beim Publikum eine möglichst große Nachfrage zum Kauf der Noten geweckt werden. George wurde mit gerade einmal 15 Jahren jüngster "Song plugger" bei Jerome H. Remick and Company. Er saß dort täglich acht bis zehn Stunden in einer kleinen Kabine als Demo-Pianist am Klavier, wofür er schmale 15 Dollar als Wochenlohn erhielt. Die Musikverleger der "Tin Pan Alley" prüften den Markt gründlich nach dem gerade angesagten Stil und ließen Songs gezielt danach schreiben. In Georges Jugendjahren war die neue Musik der Schwarzen aus dem Süden der USA in New York immer beliebter geworden und hatte die bis dahin eher operettenhaft-sentimentale Unterhaltungsmusik mehr und mehr zurückgedrängt. Aus Ragtime erwuchs der Jazz, der zuweilen mit Blues vermischt oder durch Spirituals verändert wurde. George betrachtete diese neue, populäre Musik als ideal für Amerika: "Das ist amerikanische Musik. So sollten wir Amerikaner uns ausdrücken. So will ich komponieren". Seiner Mutter gab er das Versprechen: "Ich will Komponist werden, ein amerikanischer Mendelssohn, ein Mendelssohn der populären Musik". 1916 erschien der Name George Gershwine erstmals auf einem gedruckten Notenblatt. Die Komposition "When You Wantem You Cant Getem" sollte ihm aber lediglich fünf Dollar Honorar einbringen.
Er wählte die beiden Komponisten Irving Berlin und Jerome Kern zu seinen Vorbildern. Berlin hatte geschickt Ragtime-Rhythmen in seine populären Stücke eingebaut, Kern stand für gehobene Operetten-Qualität am Broadway. Schon daraus ließ sich ablesen, dass sich George nicht auf eine einzige Musikrichtung festlegen lassen wollte. "Gershwin", wie er seinen Namen mit zunehmendem Bekanntheitsgrad geändert hatte, kannte keine stilistischen Grenzen. Er verknüpfte in seinen Werken Elemente der Unterhaltungsmusik und des Jazz mit Merkmalen der klassischen Tradition und kann als einer der Väter des heute so populären "Crossover" angesehen werden. Die Reinform des Jazz, die dank des Zuzugs der besten schwarzen Musiker aus New Orleans damals in Chicago ihre Hochburg hatte, lernte Gershwin wohl nie kennen. Dass Jazz eine improvisierte, weitgehend instrumentale Musik war, die nichts mit den eingängigen Broadway-Songs gemein hatte, kümmerte in New York niemanden. Dort sollten daher bald auch Gershwins auskomponierte Stücke, die häufig als "sinfonischer Jazz" bezeichnet werden, als echte Jazz-Nummern durchgehen.
Er kannte keine stilistischen Grenzen
"Die Tragödie Gershwins ist bis auf den heutigen Tag", so der bekannteste deutsche Jazz-Experte Michael Naura, "dass ihm sein fantastisches Talent für populäre Lieder, die man auf der Straße trällerte und die dennoch nie primitive Gassenhauer waren, sozusagen den Eintritt in den Olymp der Musik verwehrte... George Gershwin war weder ein Jazzmusiker noch ein Klavierdonner-Gott von europäischen Gnaden. Gershwin war ein Melodien-Monster, ein Meister der kleinen Form, ein nordamerikanischer Rousseau der Musik."
Der Abschied von Remick anno 1916 war für Gershwin nur ein weiterer Schritt auf dem Weg zur erhofften Karriere am Broadway, wo für Revuen und Musicals ständig neue populäre Songs benötigt wurden. 1919 zeichnete er bei "La-La-Lucille" erstmals für die Musik eines Broadway-Musicals verantwortlich. Im gleichen Jahr komponierte er mit "Swanee" seinen ersten Hit, von dem dank der Interpretation durch den bekannten Sänger Al Jolson innerhalb eines Jahres mehr als eine Million Notenblätter verkauft werden konnte. Zwischen 1920 und 1924 schrieb Gershwin allein 45 Songs für die Musical-Show "The George White Scandals", die meisten davon längst vergessen, nur "Stairway to Paradise" oder "Somebody Loves Me" sind zu Klassikern geworden. Sogar eine ziemlich sentimentale Oper mit dem Titel "Blue Monday" verfasste Gershwin für die "Scandals". Insgesamt brachte Gershwin mehr als 700 Songs auf Notenpapier, wobei die Mehrzahl der Texte von seinem Bruder Ira stammte. Man erinnert sich heute nur noch an wenige Titel, beispielsweise an "Do It Again" von 1922, "Someone To Watch Over Me" von 1926, "I Got Rhythm" von 1930 oder "Summertime" (1934). Auch die meisten seiner Musicals sind längst in den Schubladen verschwunden. Außer "Lady Be Good" aus dem Jahr 1924 mit Song-Perlen wie "Fascinating Rhythm" und "The Man I Love", "Oh, Kay!" aus dem Jahr 1926 oder "Strike Up The Band" aus dem Jahr 1927.
Gershwin liebte
das grelle Nachtleben
Reich und berühmt wurde Gershwin 1924 durch seine "Rhapsody in Blue", ein Konzertstück für Jazz, das Gershwin in Rekordzeit von gerade einmal 24 Tagen kreiert hatte. Berühmtheiten wie Maurice Chevalier, Fred Astaire oder Douglas Fairbanks wurden seine Freunde, er liebte das ausschweifende Nachtleben ebenso sehr wie die Frauen. Am dauerhaftesten war seine Beziehung zur Komponistin Kay Swift. Der "Rhapsody" folgten weitere Geniestreiche wie das "Concerto for Piano and Orchestra in F" (1925), die Orchesterkomposition "An American in Paris" (1928) oder schließlich Gershwins am meisten ambitioniertes, 1935 uraufgeführtes Werk, die Oper "Porgy and Bess", an der er 20 Monate lang gearbeitet hatte. Die erste amerikanische Volksoper sollte erst viele Jahre nach Gershwins frühem Tod infolge eines Gehirntumors in seiner späten Wahlheimat Kalifornien, wohin er 1936 wegen musikalischer Aufträge für Hollywood-Filme wie "Shall We Dance" umgezogen war, ein großer Erfolg werden. Bei der Premiere war sie von der zeitgenössischen Presse mehrheitlich zerrissen worden. Wie überhaupt Gershwins uvre viel mehr Zuspruch vom Publikum und auch von prominenten Kollegen wie Ravel, Schönberg oder Leonard Bernstein erhalten hatte als von den hehren Musikkritikern. Die hatten ihn sogar schon mal als "heruntergekommenen Rachmaninow" gescholten.
Peter Lempert