Das erst 1999 entdeckte Hormon Ghrelin beeinflusst grundverschiedene Prozesse im Körper: Ernährungsverhalten, Denkleistung, Schlaf oder Stimmung. Nun haben Forscher nachgewiesen, dass es auch die Bildung neuer Hirnzellen anregen kann ein Hoffnungsschimmer für Parkinson- oder Alzheimerpatienten.
Spätestens wenn der alljährliche Sommerurlaub immer näher rückt und der Blick vor dem Badezimmerspiegel auf den eigenen Body in Bikini oder Badehose schonungslos dringenden Abspeck-Bedarf nahelegt, kommt ein Botenstoff ins Spiel, dessen Name an Märchenfiguren erinnert. Wobei Ghrelin letztlich nur die Abkürzung für den englischen Fachbegriff "Growth Hormone Release Inducing" ist, was übersetzt so viel wie "die Freisetzung von Wachstumshormonen einleitend" bedeutet.
Beim Fasten oder bei einer kalorienreduzierten Diät schüttet der Körper verstärkt Ghrelin aus, das Level des vor allem durch die Magenschleimhaut freigesetzten und seine Wirkung anschließend im Gehirn entfaltenden Stoffwechselhormons im Blut steigt deutlich an. Das löst im Kopf das Signal Hunger aus. Es gibt gewissermaßen einen Nachrichtenaustausch zwischen Magen und Gehirn. Und Ghrelin steuert dabei zusammen mit Leptin, Cortisol und Orexin unser Ernährungsverhalten. Es verführt zum Essen. Wobei die den Appetit steigernde Wirkung für den Fastenden natürlich nicht unbedingt die beliebteste Eigenschaft des Hormons sein wird. Schon gar nicht für Übergewichtige. Bei ihnen sinkt der Ghrelin-Spiegel nach dem Essen nicht wie bei Menschen mit Normalgewicht, und daher kann sich nur schwer ein Sättigungsgefühl einstellen. Allerdings könnte eine Blockierung des zusätzlich die Fettverbrennung verlangsamenden Ghrelin auch zu Gewichtsverlust führen. Das konnten jedenfalls Pharmakologen der John Hopkins University in Baltimore bei Versuchen mit Mäusen nachweisen. Entsprechende Medikamente könnten Folgeerkrankungen von starkem Übergewicht wie Bluthochdruck, Diabetes oder Gefäßverkalkung eindämmen.
Aber Ghrelin ist nicht nur ein Appetitanreger. Es beeinflusst im menschlichen Körper auch noch weitere Prozesse, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben: Schlaf, Denkvermögen oder Stimmung. Bei Kurzschläfern wurde bei Studien regelmäßig ein erhöhter Ghrelin-Spiegel im Blut nachgewiesen, während er bei langem und tiefem Schlaf deutlich niedriger lag. Schlafmangel führt daher zu einer Appetitsteigerung und zur Entwicklung von Übergewicht. Forscher der Universität von Chicago konnten einen direkten Zusammenhang zwischen ausreichender Schlafdauer und Diäterfolg belegen. Ihre Kurzschläfer mit nur fünf Stunden Bettruhe hatten tagsüber deutlich mehr Hunger und verloren innerhalb von zwei Wochen zwei Drittel weniger Fett als die Acht-Stunden-Normalschläfer. Bei Versuchen mit Mäusen fanden Wissenschaftler der Universität Texas heraus, dass bei chronischem Stress zwar der Ghrelin-Spiegel erheblich in die Höhe getrieben wurde, dass aber die große Menge des Hormons zu einer signifikanten Dämpfung von Angstgefühlen oder Depressionen führte. Auf den Menschen übertragen könnte das bedeuten, dass emotional belastende Situationen durch den Ghrelin-Anstieg zwar zu verstärkter Nahrungsaufnahme anregen können, dass gleichzeitig aber auch der Stress abgebaut wird.
Neue, junge Hirnzellen
Viel spricht auch dafür, wie diverse internationale Versuche mit Mäusen und Ratten vermuten ließen, dass das bei Hunger im Magen produzierte Hormon die menschliche Denkleistung und das Gedächtnis fördern kann. Allerdings wurde diese Annahme von Wissenschaftlern des Münchener Max-Planck-Instituts für Psychiatrie unter Leitung von Nicolas Kunath in einer 2016 unter Mitwirkung von 21 Probanden erstellten Studie etwas infrage gestellt. Denn nach Verabreichung von Ghrelin konnte am Folgetag keine wesentliche Verbesserung der Gedächtnisleistung festgestellt werden. Allerdings schlossen Kunath und seine Kollegen nicht aus, dass sich positive Effekte auf das Lernvermögen womöglich durch eine kontinuierliche Verabreichung des Hormons über einen längeren Zeitraum einstellen können.
Hochinteressant waren auch die Überlegungen, die Wissenschaftler aus dem Zusammenhang zwischen chronischem Stress und erhöhter Ghrelin-Ausschüttung abgeleitet hatten. Sie gipfelten in der These, dass dem Botenstoff womöglich eine schützende Funktion gegen das durch Dauerstress verursachte Absterben von Gehirnzellen im Hippocampus zugeschrieben werden könnte. Was 2009 erstmals in einer Studie unter Leitung von Minho Moon von der University of Medicine in Seoul bestätigt werden konnte. Die Forscher konnten nachweisen, dass Ghrelin Nervenzellen im Gedächtniszentrum des Gehirns nicht nur vor dem Absterben bewahren, sondern sie sogar zum Vermehren anregen kann. Womit die lange Zeit gültige medizinische Lehrmeinung, dass im Laufe des Lebens abgestorbene Gehirnzellen niemals wieder nachwachsen könnten, widerlegt werden konnte. Heute weiß man, dass aus Stammzellen auch bei Erwachsenen wieder neue Hirnzellen gebildet werden können. "Und es ist Ghrelin, das die Zellen wieder wachsen lassen kann", sagte so schon Helmut Schatz von der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie bereits 2010. Weshalb Schatz seinerzeit schon in dem Hormon einen Hoffnungsträger für die Entwicklung von Therapien gegen Alzheimer, Epilepsie und anderen neurologischen Erkrankungen ausgemacht hatte.
Dass Ghrelin durchaus dazu in der Lage ist, die Produktion neuer Hirnzellen in Gang zu setzen, haben im April dieses Jahres britische Forscher rund um Jeffrey Davies von der Swansea University Medical School anlässlich eines neurowissenschaftlichen Kongresses in Birmingham bestätigt. Die Arbeitsgruppe war bei ihren Untersuchungen zu dem Ergebnis gekommen, dass das Hungerhormon Dopamin produzierende Nervenzellen, deren Verlust bei Parkinson-Patienten die Kontrolle über die Motorik zur Folge hat, vor biochemischen Stress schützen kann. Und dass Ghrelin darüber hinaus das Wachstum neuer, junger Hirnzellen anregen kann. Davies Kollegin Amanda Hornsby hatte bei einer aktuellen Studie mit 28 Parkinsonpatienten mit Gedächtnisstörungen festgestellt, dass im Blut der Erkrankten die Ghrelin-Werte stark erniedrigt waren. Woraus sie schlussfolgerte, dass eine Gabe des Hormons oder einer ähnlichen chemischen Substanz diesen Patienten womöglich zu erheblichen gesundheitlichen Verbesserungen verhelfen könnte. Allerdings solle niemand schnelle Effekte erwarten. Es könne, so Nicolas Kunath, Tage oder Wochen dauern, bis neue Hirnzellen einsatzbereit sind.
Peter Lempert