Nach der Abdankung von Edward VIII. wegen einer Frauen-Affäre stieg dessen schüchterner Bruder unter dem Namen George VI. zum britischen König auf. Am 12. Mai vor 80 Jahren wurde der stotternde Monarch in Westminister Abbey feierlich gekrönt.
Die Stadt London war im Ausnahmezustand an jenem Mittwoch vor 80 Jahren. Menschenmassen säumten Straßen und Plätze, Truppen der Welsh Guards aus dem Leibregiment des Königshauses marschierten in grellroten Röcken und ihren berühmten Bärenfellmützen durch die Stadt, ebenso australische Soldaten mit Buschhüten als Kopfschmuck. In der Hauptstadt des britischen Empire stand die Krönung eines neuen Monarchen an. Allerdings war die feierliche Zeremonie ursprünglich für einen anderen Hauptdarsteller vorbereitet worden. Doch Edward VIII., der nach dem Tod seines Vaters König George V. am 20. Januar 1936 als ältester Sohn automatisch die Thronfolge antrat, hatte nach gerade einmal elf Monaten Regentschaft am 10. Dezember 1936 als britischer König abgedankt noch bevor ihm die obligatorische Edwardskrone auf das Haupt gesetzt werden konnte. An seiner Stelle musste an jenem 12. Mai 1937 Edwards Bruder George VI. den für ihn äußerst beschwerlichen Weg in einer achtspännigen Kutsche zur Westminster Abbey zurücklegen.
Dort sollte er vom Erzbischof von Canterbury, Cosmo Gordon Lang, mit den Herrschaftsinsignien des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland und des Kaiserreichs Indien ausgestattet werden. Der von Natur aus schüchterne Windsor-Spross, der wegen seines Stotterns zeitlebens Angst vor öffentlichen Auftritten und dessen Sprechproblem der Oscar-prämierte Film "The Kings Speech" aus dem Jahr 2010 zum Thema hatte, musste fortan unfreiwillig eine Rolle spielen, auf die er nicht vorbereitet war. Zudem sah er sich selbst auch nicht ausreichend befähigt dafür. "Ich habe mir die Krone nie gewünscht", sagte George VI. am Tag der Abdankung seines Bruders. "Ich bin völlig unvorbereitet. Ich bin nur ein Marineoffizier, und die Marine ist das einzige, wovon ich etwas verstehe."
Und doch sollte sich ausgerechnet dieser hausbackene Monarch wider Willen an der Spitze des damaligen Weltreiches bewähren, die durch den Rücktritt Edwards XIII. heraufbeschworene Verfassungskrise überwinden und für das englische Königshaus Würde und Popularität zurückgewinnen. George VI. profitierte davon, dass er es unbewusst verstand, seine Landsleute "auf eine besondere Art anzusprechen, ja zu rühren", wie es der "Spiegel" in einem Artikel 1959 einmal trefflich formuliert hatte. "Die Briten", so der "Spiegel" weiter, "mochten den Menschen George VI. gern im Gegensatz zu seinem extravagant-nonchalanten Bruder Edward; seine vielen Schwächen ließen ihn als einen Engländer unter vielen erscheinen."
In England war es ein offenes Geheimnis, dass der neue Monarch keine allzu erfreuliche Kind- und Jugendzeit erlebt hatte. Er war am 14. Dezember 1895 in York Cottage, einem Anwesen auf dem Landsitz Sandringham in der Grafschaft Norfolk, geboren worden und trug den Namen "Albert Frederick Arthur George". Er war der zweite Sohn des Prinzen George, dem späteren König George V. In der Thronfolge stand er am Tag seiner Geburt hinter Großvater, Vater und dem älteren, 1894 geborenen Bruder Edward erst an vierter Stelle. Dass er jemals britischer König werden könnte, war daher mehr als unwahrscheinlich.
Der Vater hatte den älteren Bruder Edward zu seinem Lieblingssohn erwählt. Dieser musste aber auch die strenge, auf Drill, Härte und Disziplin beruhende viktorianische Erziehung über sich ergehen lassen. Nur dass er darunter offenkundig weniger schwer gelitten hatte als sein scheuer, zurückhaltender und häufig kränkelnder Bruder Albert, der im Familienkreis meist nur "Bertie" genannt wurde. Der Vater schulmeisterte die gesamte Familie mit geradezu tyrannischer, mitleidloser Strenge. Gemäß seinem persönlichen Motto, das seelische Grausamkeit durchaus als probates Erziehungsmittel ansah: "Mein Vater (Edward VII.) hatte Angst vor seiner Mutter (Königin Victoria), ich hatte Angst vor meinem Vater, und ich werde verdammt noch mal dafür sorgen, dass meine Kinder Angst vor mir haben."
Scheues und
gehemmtes Kind
Allerdings überließ der Vater die Umsetzung der extrem strengen, lieblosen Erziehungsmethoden einer ganzen Herde an Dienstpersonal, darunter Kindermädchen, Gouvernanten und Hauslehrer. Albert, ein scheues, gehemmtes Kind, wurde vom Linkshänder zum Rechtshänder umgepolt und begann aufgrund des großen auf ihm lastenden psychischen Stresses mit dem Stottern. 1909 trat Albert in die Royal Navy ein, sollte jedoch auf der Kadettenschule in Dartmouth, wo er seit 1911 seine Ausbildung fortsetzte, keineswegs zu den Besten seines Jahrgangs zählen. Er kam nie über die letzten Plätze der Klassen-Rangliste hinaus, weil ihm einfach die intellektuelle Brillanz seines Bruders Edward fehlte, der 1910 nach der Thronbesteigung seines Vaters offiziell durch Verleihung des Titels Prince of Wales zum Thronfolger aufgestiegen war. Am Ersten Weltkrieg nahm Albert auf einem Schlachtschiff in gesicherten Positionen teil, beispielsweise als Beobachter der Seeschlacht im Skagerrak im Sommer 1916.
Angesichts von zahlreichen gesundheitlichen Problemen schied er auf eigenen Wunsch im Oktober 1919 aus dem aktiven Militärdienst aus, nachdem er zuvor noch als erstes Mitglied der Königsfamilie eine Pilotenausbildung bei der neu installierten Royal Air Force absolviert hatte. An der Universität Cambridge nahm er das Studium von Geschichte, Wirtschaftswissenschaften und Staatslehre auf und erhielt im Juni 1920 als zweitgeborener Sohn des Königs den Titel eines Duke of York verliehen. Mit dieser Ehrung war die Übernahme offizieller Pflichten oder Repräsentationen für die Monarchie verbunden. Besuche in Fabriken oder Industrierevieren bereiteten dabei dem öffentlichkeitsscheuen Albert, der am liebsten seinen privaten Vorlieben Jagd, Angeln und Tennis nachging, weitaus weniger Probleme als Auftritte, bei denen sein nicht vorhandenes Redetalent gefragt war.
Alberts geradezu desaströse Ansprache im Wembley-Stadion anlässlich der Commonwealth-Ausstellung im Oktober 1925 bereitete nicht nur den Kinobesuchern des Films "The Kings Speech" Mühe und Pein, sondern übermittelte seinerzeit die Qualen des radebrechenden Menschen am Mikrofon mittels des neuen Mediums Rundfunk gnadenlos der gesamten Welt.
Erfolgreiche Therapie gegen das Stottern
Das rief Alberts Ehefrau, die schottische Adlige Elizabeth Bowes-Lyon, auf den Plan. Schon bald nach der Heirat am 26. April 1923 hatte die Lady, die spätere "Queen Mum", das Zepter bei den Yorks heimlich hinter den Kulissen übernommen. Sie inszenierte für Volk und Hof so etwas wie eine Modellfamilie, in absoluter Perfektion allerdings erst nach der Geburt der Töchter Elizabeth anno 1926 und Margaret anno 1930, wofür sie sogar von dem grantigen König George V. geschätzt wurde.
Ein stotternder Ehegatte war dieser Idylle wenig förderlich. Sie konnte Albert aber zu einer Therapie bei einem unkonventionellen australischen Sprachtherapeuten namens Lionel Logue überreden. Acht Monate lang besuchte Albert dessen Sprechstunde, und Logue gelang es, Albert weitgehend von seinem Stottern zu befreien. Immer, wenn Albert in den folgenden Jahren eine wichtige Ansprache zu halten hatte beispielsweise im September 1939, als er der Nation die Kriegserklärung an das Deutsche Reich begründen musste stand ihm sein Sprachlehrer zur Seite. Die beiden Männer blieben Freunde ein Leben lang.
Als Edward VIII. im Januar 1936 den britischen Königsthron bestieg, war Albert nächster Thronfolger geworden, da sein Bruder noch keine Nachkommen hatte. Der lebensfrohe Edward hatte bereits eine ganze Reihe von Affären mit meist verheirateten und zudem meist jüngeren Frauen hinter sich. Doch die Beziehung zu der Amerikanerin Wallis Simpson, die bereits seit rund zwei Jahren lief, schien etwas Ernsteres zu sein. Bis zum Tod des Vaters wurde die Affäre vom Hofe und der politischen Elite toleriert. Nachdem Edward Monarch geworden war, wurde ihm dringend nahegelegt, die Liaison zu beenden, denn Wallis Simpson war nicht nur eine Bürgerliche, sie war außerdem Amerikanerin und stand kurz vor ihrer zweiten Scheidung.
Mit Elizabeth starke Frau an seiner Seite
Als Edward VIII. seine Absicht bekundet hatte, Wallis Simpson zur Frau zu nehmen, regten sich dagegen sogleich massive Widerstände sowohl im britischen Kabinett als auch in der anglikanischen Kirche und bei anderen Regierungen des Empires. Da Edward zudem offen Sympathien für das Naziregime in Deutschland gezeigt und seinen Willen zur Modernisierung der britische Monarchie angekündigt hatte, gab es im Establishment so gut wie niemanden, der Edwards Heiratsplan mit einem pfiffigen Lösungsansatz unterstützen wollte. Edward hatte nur die Wahl zwischen Thron oder Liebe. Er entschied sich für Wallis Simpson und dankte ab.
Sein Bruder George VI. sollte dagegen bis zu seinem Tod am 6. Februar 1952 ein immer größeres Ansehen bei seinem Volk genießen. Nicht zuletzt geschuldet der Tatsache, dass Ehefrau Elizabeth ihren königlichen Gemahl hatte überreden können, dem Bombardement Londons während des Krieges nicht aufs Land zu entfliehen, sondern den Untertanen durch zur Schau gestellte Unbeugsamkeit psychologischen Halt zu geben.
Peter Lempert