Prof. Dr. Andreas Michalsen, Chefarzt für Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin, stieg mit seinem Buch "Heilen mit der Kraft der Natur" ganz oben in die Bestseller-Listen ein. Im Interview spricht er über seinen Weg zur Naturheilkunde, die positiven Wirkungen des Fastens und Behandlungsmöglichkeiten für chronische Erkrankungen.
Herr Dr. Michalsen, wie kamen Sie zur Naturheilkunde?
Es sind zwei Spuren. Die erste liegt in der Familie. Mein Vater und mein Großvater waren bereits Ärzte mit dem Schwerpunkt Naturheilkunde, sodass ich dies von Kindertagen an mitbekommen habe. Zum anderen war ich nach vielen Jahren der ärztlichen Tätigkeit in der Kardiologie, der Intensiv- und Notfallmedizin an dem Punkt, dass ich den Wunsch verspürte, chronische Erkrankungen zu einem früheren Zeitpunkt besser zu behandeln, sodass die immer wiederkehrenden Drehtüreffekte gar nicht erst auftreten. Nach derzeitigen Schätzungen sind viele Erkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Bluthochdruck und Diabetes zu 80 bis 90 Prozent lebensstilbedingt. Auch viele Krebserkrankungen haben eine wesentliche Verursachung im Lebensstil. Mein Ziel war es, mithilfe von Naturheilkunde zu verhindern, dass diese Erkrankungen entstehen und chronifizieren, beziehungsweise, wenn sie da sind, sie möglichst zu entchronifizieren.
Seit wann praktizieren Sie Naturheilkunde und mit welchen Methoden behandeln Sie Ihre Patienten?
Ich habe die Professur für Klinische Naturheilkunde der Charité-Universitätsmedizin Berlin und die Position des Chefarztes für Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin 2009 übernommen. Naturheilkunde habe ich bereits davor in Funktion des leitenden Oberarztes acht Jahre an den Kliniken Essen-Mitte/Universität Essen praktiziert sowie als leitender Oberarzt an der Fachklinik für Naturheilverfahren in Bad Elster. An unserer Einrichtung in Berlin behandeln wir die Patienten mit verschiedenen wissenschaftlich geprüften naturheilkundlichen Verfahren. Im Vordergrund stehen die klassischen Naturheilverfahren. Dies sind: Ernährungstherapie und Fastentherapie, Mind-Body-Medizin (Yoga, Meditation, Tai-Chi unter anderem), Phytotherapie, Heilpflanzen, Hydrotherapie, Balneotherapie, Physiotherapie und Bewegungstherapie sowie -massagen. Darüber hinaus setzen wir gezielt Verfahren wie ayurvedische Medizin, aus Indien stammend, traditionelle chinesische Medizin sowie traditionelle europäische Verfahren, zum Beispiel Blutegel, Schröpfen, Aderlass ein.
Wieso stehen viele Schulmediziner alternativen Heilmethoden immer noch ablehnend gegenüber?
Ein Punkt ist sicher, dass das Fachgebiet der Naturheilkunde nicht eindeutig definiert ist. Tatsächlich werden unter dieser Überschrift auch manchmal Verfahren angeboten, die nicht seriös sind. Neben der ärztlichen Naturheilkunde gibt es auch den Bereich der Heilpraktiker, 40.000 in Deutschland. Hierbei gibt es durchaus seriös und gut arbeitende Heilpraktiker, aber auch das Gegenteil. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass schulmedizinische Kollegen ablehnend oder zumindest distanziert reagieren. Allerdings ist festzustellen, gerade auch an unserer Einrichtung, dass in den letzten Jahren eine Bewegung aufeinander zu stattgefunden hat und beide Seiten an einer Integration arbeiten. Das Ziel sollte eine integrative Medizin in Kombination aus beidem sein, das Beste von beidem.
Bei welchen körperlichen und psychischen Leiden kann Naturheilkunde erfolgreich angewendet werden?
Es sind vor allem die chronischen Erkrankungen und hier interessanterweise die inzwischen so häufigen Erkrankungen, dass sie als Volkskrankheiten bezeichnet werden, für die Naturheilkunde in der Regel erfolgreich zur Anwendung kommen kann: Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Arthrosen, chronischer Rücken- und Nackenschmerz, entzündliches Rheuma, Reizdarm und entzündliche Darmerkrankungen, Depression und die chronische Gefäßerkrankung zum Beispiel am Herz oder an den Beingefäßen. In der Krebstherapie kann Naturheilkunde ergänzend eingesetzt werden. Auch in der Neurologie finden sich zunehmend Hinweise für einzelne Verfahren, beispielsweise für das Fasten oder die Akupunktur bei Neuropathien oder Multiple Sklerose. Ich empfehle Naturheilkunde vor allem eben bei diesen chronischen Erkrankungen gezielt einzusetzen nicht als Alternative, sondern in Kombination mit der Schulmedizin. Hintergrund ist, dass diese Erkrankungen in der Schulmedizin oft nur symptomatisch mit Medikamenten behandelt werden, die zahlreiche Nebenwirkungen verursachen. Durch Naturheilkunde können diese Nebenwirkungen auch vermieden werden. Am Thema Diabetes kann beispielsweise aufgezeigt werden, welche Möglichkeiten die Naturheilkunde bietet. Studien konnten zeigen, dass eine vegane Ernährung hervorragende Verbesserungen in der Blutzuckerregulation und im Verlauf des Diabetes bewirken. Auch das Fasten und das intermittierende Fasten zeigen gute Wirkungen bei Diabetes. Dazu kann auch ein Aderlass durchgeführt werden, für den ebenfalls wissenschaftliche Evidenz vorliegt. Schließlich sind eine Reihe von Heilkräutern und speziellen Nahrungsmitteln zu nennen, die sich günstig auf den Diabetes auswirken, dies sind zum Beispiel Essig, Zimt, Nüsse, Ginseng oder auch Leinsamen.
Wie kann man Magen- und Darmbeschwerden erfolgreich mit der Kraft der Natur behandeln?
Dies ist die große Domäne der Phytotherapie. Es gibt bekannte Heilpflanzen, die als Tee zu sich genommen werden können wie Fenchel, Kümmel, Anis, Kamille, Melisse. Aber auch wohltuende Dinge wie Heilerde, Leinsamenschleim, Flohsamenschalen oder auch gute Gewürze wie Gelbwurz, die bei Entzündungen und bei Darmbeschwerden sehr gut helfen. Darüber hinaus kann mit Darmbakterien Positives bewirkt werden, vor allem beim Reizdarmsyndrom. Zudem eignen sich die Kneipp-Therapien, Wärme und Kältebehandlungen und natürlich auch hier wieder das Heilfasten und das intermittierende Fasten und schließlich auch Meditation und Yoga.
Und bei Depressionen?
Bei Depressionen behandeln wir ebenfalls mit Heilkräutern, vor allem Johanniskraut. Aber auch hier sind Meditation und Yoga hoch wirksam. Die Bewegungstherapie (Ausdauertraining) ist ebenfalls wirksam ähnlich wie ein antidepressiv wirksames Medikament. Neue Studien belegen auch, dass man durch eine Hyperthermie, also eine Überwärmungsbehandlung, depressive Beschwerden gut lindern kann. Ich empfehle zudem Waldspaziergänge, Waldbaden sowie, wenn immer noch keine ausreichende Linderung da ist, ayurvedische Behandlungen.
Ein Kapitel in Ihrem Buch ist dem Fasten gewidmet. Was bewirkt es Positives im Körper?
Das Fasten hat eine Vielzahl positiver Wirkungen auf den Körper. Das Wichtigste ist, dass viele Körperregelsysteme, die über Hormone und Rezeptoren fein eingestellt sind, durch die Fehl- und Überernährung und den Mangel an Bewegung, den wir heute fast alle haben, oft überfordert sind und auf diese Weise zu Erkrankungen wie Bluthochdruck und Diabetes oder auch Arthritis beitragen. Durch Fasten werden diese Systeme, diese Hormone, wie bei einer Reset-Taste wieder in ihren Normalbereich zurückbewegt. Darüber hinaus weiß man, dass die zellulären Körperreinigungsmechanismen (Autophagie) durch Fasten angeregt werden. Schließlich hat Fasten auch eine starke mentale Wirkung. Immer wieder sehen wir, dass unsere Patienten es nach einem Fasten besser schaffen, sich gesünder zu ernähren und einen gesundheitsfördernden Lebensstil aufnehmen. Es gibt verschiedene Methoden zu fasten. Am bekanntesten ist das Heilfasten, hier nach der Buchinger Methode, das für sieben, zehn oder 14 Tage ausgeübt wird. Möglich ist aber auch das Zwischendurch-Fasten, das intermittierende Fasten, wo ein oder zwei Mal pro Woche ein Entlastungstag mit Reis und Obst oder nur etwas Getreideschleim durchgeführt wird. Oder das tägliche intermittierende Fasten, in dem man statt vieler Mahlzeiten versucht, sein Essen auf zwei Mahlzeiten zu verteilen, dann möglichst eine Essenspause von 14 bis 16 Stunden jeden Tag. Das Heilfasten ist besonders wirksam bei Diabetes, bei Bluthochdruck, bei Rheuma und auch insgesamt bei Schmerzerkrankungen wie Arthrose und Rückenschmerzen. Das intermittierende Fasten ist besonders geeignet auch zur Gewichtsabnahme sowie zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Im Bereich der ergänzenden Krebstherapie führen wir derzeit Studien durch, die überprüfen, ob man durch ein intermittierendes Fasten von 60 bis 72 Stunden vor und nach einer Krebstherapie deren Verträglichkeit verbessern kann und sich die Lebensqualität erhöht.
Sollte man die Schulmedizin kritisch betrachten?
Die Schulmedizin sollte man nicht prinzipiell kritisch betrachten. Sie ist eine wunderbare und äußerst erfolgreiche Medizin in der Behandlung schwerer lebensbedrohlicher Akuterkrankungen von der Kardiologie bis zur Unfallmedizin. Das Problem erscheint mir, dass wir diese hochtechnisierte und akut sehr wirksame Medizin ohne große Anpassung letztlich unverändert auch in gleicher Art für die chronischen Erkrankungen einzusetzen versuchen. Hier aber ist der Körper viel komplexer erkrankt. Er ist multimorbide. Die Erkrankung ist nicht Folge einer akuten Verletzung, sondern eines jahrelangen Prozesses. Dementsprechend ist es meistens nicht erfolgreich und nicht zielführend, mit einem Medikament oder einer Operation diese Beschwerden zu behandeln. Das erklärt auch, warum viele Operationen am Rücken, an den Gelenken nicht zum Erfolg führen, dass viele Menschen, die 70 Jahre alt sind, acht bis zehn Tabletten gleichzeitig einnehmen, ohne dass die Krankheit geheilt wird, sondern letztlich nur Beschwerden/Symptome gelindert werden und die Medikamente zu vielen Nebenwirkungen führen. Wichtig erscheint mir also, die Schulmedizin sinnvoll mit der Naturheilkunde zu kombinieren und der Naturheilkunde vor allem bei der frühen Phase chronischer Erkrankungen viel mehr zum Einsatz zu bringen.
Gibt es ein Rezept für ein glückliches und gesundes Leben?
Nein, das gibt es nicht. Ich denke, dass entscheidet immer noch der liebe Gott. Wir können aber versuchen, die Bedingungen dafür zu optimieren. Ich würde empfehlen, sich viel zu bewegen, sich ordentlich, möglichst vegetarisch zu ernähren, wann immer es geht, in der Natur aufzuhalten, Freundschaften zu pflegen und das Leben nicht immer nur unter dem Aspekt der Leistungen und der Effizienz zu sehen.
Interview: Kristina Scherer-Siegwarth
Weitere Informationen finden Sie unter: www. naturheilkunde.immanuel.de/andreas-michalsen
Buch-Tipp: Heilen mit der Kraft der Natur: Meine Erfahrung aus Praxis und Forschung Was wirklich hilft
Von Prof. Dr. Andreas Michalsen
304 Seiten, Insel Verlag, 19,95 Euro
ISBN: 9783458176985