Für viele Insider der saarländischen Fußball-Szene gehört er zum Inventar. Schiri, Linienrichter, Lehrwart und Beobachter. Gerhard Paulus hat alles erlebt. Mit 70 Jahren macht er nun „Feierabend".
Es war am 28. März 1987 im Spiel des 1. FC Köln gegen Waldhof Mannheim. Die Bundesliga-Arena der Geißböcke hieß damals noch „Müngersdorfer Stadion", der Schiedsrichterassistent wurde noch Linienrichter genannt. Nachdem eben dieser Linienrichter Gerhard Paulus aus Primstal eine Abseitsstellung erkannt hatte, wurde er von einem merkwürdigen Wurfgeschoss getroffen. „Waldhof-Trainer Klaus Schlappner war so sauer, dass er mir seinen berühmten Pepita-Hut in den Rücken geworfen hat", erzählt der Saarländer und präsentiert stolz das Erinnerungsstück: „Später im Fernsehen hat er gesehen, dass meine Entscheidung richtig war. Drei Wochen später hat er sich entschuldigt und mir den Hut mit Widmung geschenkt."
Das ist nur eine von unzähligen Geschichten, die der heute 70-jährige Paulus aus 54 Jahren im Schiedsrichterwesen erzählen kann. Der gebürtige Büschfelder erlernte den Beruf des Industriekaufmanns, wechselte später zum Finanzamt. Mit 16 Jahren legte er die Schiedsrichterprüfung ab. „Der erste Vorsitzende des Vereins hat mich und vier weitere Jungs dazu motiviert. Damals wurden erst ab der C-Jugend Schiedsrichter eingesetzt. Es hat mir Spaß gemacht, und die Erfolge stellten sich schnell ein."
1978 stieg Paulus in die Landesliga auf, 1981 in die Verbandsliga, nur zwei Jahre später leitete er Spiele in der damals drittklassigen Oberliga und wurde in die Liste der Erstliga-Assistenten des DFB aufgenommen. Das war gleichzeitig die Berechtigung, bei internationalen Spielen an der Linie zu stehen. „Mein erstes Bundesliga-Spiel war am 24. August 1983 Hamburger SV gegen Bayer Uerdingen mit Schiedsrichter Gerhard Theobald aus Wiebelskirchen", sagt Paulus, der es 1989 sogar in die „Bild"-Zeitung schaffte: „Damals trat mir der Dortmunder Nationalspieler Michael Schulz auf den Fuß und beleidigte mich heftig. Ich habe dann in der Sportgerichtsverhandlung nicht von Absicht gesprochen. So gab es für Schulz nur acht Wochen Sperre und 10.000 Mark Geldstrafe. Bei Tätlichkeit hätte man ihn ein halbes Jahr gesperrt."
Entschuldigung von Schlappi
94-mal wurde er in der Bundesliga eingesetzt, 65-mal in der zweiten, 15-mal im DFB-Pokal. In Paulus‘ Büro hängen zahllose Wimpel, stehen Gastgeschenke von Vereinen – auch das war damals noch erlaubt. In unzähligen Ordnern hat er Zeitungsausschnitte gesammelt, Statistiken erstellt, Erinnerungsfotos eingeklebt. Auch vom Uefa-Pokalspiel Queens Park Rangers gegen Partizan Belgrad 1984. „Die Rangers hatten damals schon einen Kunstrasen, darum mussten wir ins Stadion von Arsenal ausweichen", berichtet Paulus, „es gab da keine Zäune. Die Zuschauer waren ganz dicht dran, aber unfassbar diszipliniert. Das hat mich sehr beeindruckt." 1992 war er mit einem der bekanntesten deutschen Schiedsrichter unterwegs. „Mit Markus Merk war ich beim EM-Qualifikationsspiel Belgien gegen Zypern eingesetzt. Merk war ein außergewöhnlicher Schiedsrichter. Läuferisch sehr stark, menschlich herausragend. Er hat seine Assistenten immer mit einbezogen."
Selbst auf diesem Niveau pfeifen, das wollte Paulus nie. „Assistent war der ideale Job für mich. Ich war dabei, aber eben nicht im absoluten Brennpunkt. Einmal, als im Berliner Olympiastadion mein Name auf der Anzeigetafel erschien, war ich ergriffen. Da stand ich als kleiner Saarländer und hatte es doch weit gebracht. Ich habe es genossen."
19 Jahre lang war er „nebenbei" Lehrwart der Schiedsrichtergruppe Nahe, zehn Jahre Kreis-Schiedsrichterlehrwart. Für sein Hobby hat er immer auch einen Teil seines Urlaubs geopfert. Denn während Schiedsrichter auf höchstem Niveau heute kaum noch einem Vollzeit-Beruf nachgehen, war Paulus nach seinen Einsätzen immer wieder im Amt. „Irgendwann hatte ich dann mal ein Gespräch mit dem damaligen Finanzminister Hans Kasper. Er hat mir dann fünf Tage Freistellung pro Jahr organisiert", erzählt der ehemalige Finanzbeamte und scherzt: „Und das obwohl wir nicht in der gleichen Partei waren."
Als Paulus am 30. Juni 1993 mit dem Saarland-Pokal-Finale SV Mettlach gegen SV Ludweiler (1:0) seine aktive Schiedsrichterkarriere beendete, war aber eben noch lange nicht Schluss mit dem Schiedsrichterwesen. Fortan war er als Beobachter unterwegs, verantwortlich für die Beurteilungen von Schiedsrichterleistungen und damit für den Auf- oder Abstieg der Unparteiischen. 727 Spiele hat er gesehen, per Video aufgearbeitet und beurteilt. Dabei mussten sich auch einige seinem kritischen Auge stellen, die heute in der Bundesliga tätig sind. „Jochen Drees und Deniz Aytekin habe ich beispielsweise in der Oberliga beobachtet." Den „Jugendwahn" im Schiedsrichterwesen, dass also immer jüngere Unparteiische in immer höheren Klassen auftauchen, hält Paulus zumündest für problematisch. „Den Jungs fehlt dann die Erfahrung. Die können sie nur in schwierigen Spielen sammeln, dann aber besser in unteren Ligen. Aber weil es immer weniger Schiedsrichter gibt, steigen sie halt auch schnell auf."
Fünf Tage Freistellung
Den Videobeweis hält er für „grundsätzlich eine gute Sache, weil er bei Fuß- und Armvergehen die Fehler tatsächlich minimiert", sagt der erfahrene Beobachter im Schiedsrichterjargon über Treten und Stoßen. „Was schlecht ist, ist die Auslegung der Handspielregel. Diesen Optimierungsbedarf hat man aber erkannt."
Am 30. Juni steigt Gerhard Paulus mit Erreichen der Altersgrenze aus. Nach 54 Jahren Schiedsrichterei. „Ich weiß nicht, ob ich in ein Loch fallen werde. Ich werde mich mehr um meine Frau Elfriede kümmern, wir fahren gerne Rad und reisen. Unser nächstes Ziel sind die Seefestspiele in Bregenz. Nächstes Jahr haben wir goldene Hochzeit. Und dann habe ich ja noch ein Grundstück mit großem Gemüsegarten", blickt Paulus, der dreimal den Berlin-Marathon gelaufen ist und noch immer mindestens zweimal die Woche trainiert, voraus und gleichzeitig zurück: „Die Schiedsrichterei hat mir für mein Leben viel gebracht. Disziplin, Strebsamkeit, der Respekt im Umgang mit Menschen. Ich bereue keinen Tag, würde es immer wieder machen."