Der Treuhandanstalt wird bis heute von vielen der Untergang der DDR-Wirtschaft angelastet. Ein Insider erzählt, wie es damals wirklich um die ostdeutschen Unternehmen bestellt war.
Herr Paulin, 30 Jahre nach dem Mauerfall wird die Treuhandanstalt (THA) erneut für den Niedergang der ostdeutschen Industrie verantwortlich gemacht. Was ist daran Wahrheit, was Legende?
Wahrheit ist, dass die DDR pleite war – und zwar schon lange vor der Wiedervereinigung. Das bedeutet, dass nicht nur viele Betriebe bankrott waren, sondern das gesamte Staatswesen der DDR. In der Industrie wäre ein derartiger Betrieb reif für die Abwicklung, um in der Abwicklung zu retten, was noch zu retten ist. Das ging im Fall der DDR nicht: ein Staat geht nicht pleite! Der wesentliche Grund für diese Situation war, dass die Menschen in der DDR den „Betrieb DDR" nicht mehr wollten. Sie wollten weder das System noch die Produkte der Betriebe des Systems. Was aber macht man mit Firmen, die ihre Produkte nicht einmal mehr im eigenen Lande verkaufen können? Die Ausgangssituation war katastrophal. Darüber denkt heute kaum einer mehr nach – geschweige denn, er sagt das öffentlich.
Warum eignet sich die Treuhand so sehr als Sündenbock?
Weil sie im Mittelpunkt des Interesses stand. Die Beteiligten – Bund, Länder, Europa, um einige zu nennen – haben sich in Deckung gehalten. Und die THA wurde als für alles verantwortlich definiert. Schließlich habe sie die Macht und träfe alle Entscheidungen. Die Presse sorgte dafür, dass die THA immer wieder ins Zentrum der Berichterstattung gerückt wurde – besonders in Berlin, dem Stammsitz der THA. Denn in Berlin fanden die Kämpfe um Marktanteile der Presse statt.
War das politisch gewollt, eine solche Institution zu kreieren?
Sie meinen, die THA als Puffer vorzuschieben oder sie als Bad Bank zu nutzen? Das glaube ich nicht. Man muss wissen: Die THA ist eine Gründung der DDR beziehungsweise der Wendezeit.
Wie sah Ihre Pressearbeit in der Treuhand aus?
Wir haben im Direktorat versucht, möglichst wenige Pressekontakte zu haben. Wir wussten, dass wir dort nicht gewinnen konnten. Die Presse zahlte, das hatten wir erfahren, bis zu 20.000 D-Mark für eine Indiskretion aus der THA. So viel verfügbares Bargeld hatte ein Direktorat der THA nicht. Wenn allerdings eines unserer Unternehmen aktiv Pressekontakte haben wollte, wurde das von uns unterstützt.
Woher kommt das neu erwachte Interesse an der Arbeit der Treuhand?
Das Interesse an der THA ist doch nicht neu. Für mich ist es immer aktiv gewesen. Eine Zeit lang stand die THA weniger im Vordergrund, es wurde kaum über sie berichtet. Doch in diesem Jahr haben wir 30-jähriges Jubiläum des Mauerfalls. Ein Grund nachzufragen: Was ist denn damals passiert? Und dann schauen viele in alten Zeitungen nach und finden dort Beurteilungen der THA wie „Verbrecherverein", „Schurken", „Machen alles platt". Positive Meldungen werden in Deutschland oft übersehen. Die Presse braucht Schlagzeilen, weniger analysierte Inhalte. Der zweite Grund liegt darin, dass populistische Parteien Wähler gewinnen wollen. Und dafür scheint das Thema THA bestens geeignet. Man kann so schön draufhauen. Und die THA kann sich nicht wehren.
Welchen Anteil am Niedergang der DDR-Wirtschaft hatte die Einführung der D-Mark in der DDR ein halbes Jahr vor der Wiedervereinigung?
Die wenigsten haben verstanden, was damals wirklich passiert ist. Den von der THA betreuten DDR-Firmen sind zwei Vorgänge besonders zur Last gefallen. Der erste war die Art der Wiedervereinigung, mit der die DDR der Bundesrepublik beigetreten ist. Damit wurde das gesamte System Bundesrepublik auf Wunsch der DDR über die DDR gestülpt, alles war dort neu! Das Grundgesetz sah vor, die Verfassung neu zu gestalten. Man hätte auch für ein paar Jahre eine Sonderregelung für die DDR einführen können, was einige Wirtschaftsexperten gefordert haben. Ich vermute, dass das noch problematischer verlaufen wäre. Beide Ansätze wurden nicht realisiert. Die DDR – auch Neufünfland genannt – musste nach Regeln leben, die der Westen bereits seit über 40 Jahren praktizierte. Der zweite für die Unternehmen belastende Vorgang war die Einführung der D-Mark. Zwar hatte es Vorschläge gegeben, die DDR-Währung, zu behalten. Aber das wollte niemand in der DDR. Die Menschen wollten die
D-Mark haben, und zwar schnell. Weil die Bevölkerung wusste: Mit der D-Mark kann man mehr erreichen als mit dem DDR-Geld.
Wie würden Sie die Arbeit der Treuhand aus heutiger Sicht bewerten?
Die Kernfrage hier ist: War es richtig, Privatisierung als oberste Maxime zu setzen? Das steht im Zentrum der Geschichte, die sich um die THA rankt. Ich bin überzeugt, dass das richtig war, denn wir hatten nicht viel Zeit. Im Laufe unserer Arbeit entwickelte sich der Markt immer mehr in einen reinen Käufermarkt, in dem die Kunden die Hoheit im Kaufgeschäft bekamen. Je mehr wir eine Firma am Markt anboten, umso schwieriger wurde es, sie loszuwerden, weil ihre wirtschaftliche Situation publik wurde. Allerdings gibt es heute viele Leute, die sagen, die THA hätte länger arbeiten müssen. Die haben nicht berücksichtigt, dass die THA in der BvS (Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben) eine Nachfolgerin hatte. Die hätte unsere Regierung nur aktiver einsetzen müssen.
Was ist dran an dem Vorwurf, Westfirmen hätten billig Ost-firmen aufgekauft, um sie dann plattzumachen?
So was hat es sicher gegeben. Im Direktorat Fahrzeugbau haben wir eine dafür beispielhafte Vorgehensweise entdeckt. Wir nannten diese intern den „Königsweg der Privatisierung". Diese funktionierte wie folgt: Die THA riet ihren Beteiligungsfirmen, sich Partner zu suchen, die ihre größte Schwachstelle (Marketing und Vertrieb) ausgleichen sollten. Einige Westunternehmen gründeten daraufhin Gemeinschaftsunternehmen, an denen sie 51 Prozent hielten und die Ostfirma 49 Prozent. So hatten die Westunternehmen die Ostfirmen im Griff. Sie kannten alle wichtigen Zahlen von Absatz und Umsatz und sie hielten die Mehrheit an der gemeinsamen Vertriebsgesellschaft. Das haben auch große Firmen wie zum Beispiel Thyssen mit unseren Beteiligungsunternehmen gemacht. Das konnten wir so nicht zulassen. Das Direktorat hat in solchen Fällen diese gemeinsamen Gesellschaften kurzfristig aufgelöst.
Wie groß war der Anteil solcher Versuche?
Das trat in weniger als zehn Prozent der Unternehmen auf.
Als Beispiel für das Kaputtmachen von Ostbetrieben wird gerne der Kühlschrankhersteller Foron genannt …
Ich erinnere, weil ich in der Nähe von Foron mit dem Motorradhersteller MZ ein Beteiligungsunternehmen mit hohem Betreuungsaufwand hatte, mich an einige Gerüchte, die in der Gegend die Runde machten. Foron behauptete, den ersten FCKW-freien Kühlschrank erfunden zu haben. Dieser werde von ihren West-Wettbewerbern schlechtgeredet, es wurde von Explosionsgefahr gemunkelt. Als Foron aus betriebswirtschaftlichen Gründen aufgeben musste (drei Jahre nach der Privatisierung), sollen Westunternehmen, die Foron-Technik übernommen haben. Inwieweit das stimmt, entzieht sich meiner Kenntnis. Solche Art von Industriespionage gab es sicher –
bestimmt aber in beiden Richtungen.
Was war das größte Problem für die Treuhand?
Den Schaden zu beheben, den ein diktatorisches und kommunistisches Regime in 40 Jahren in den Firmen angerichtet hatte.
Was wäre die Alternative zur Treuhand gewesen?
Man hätte zum Beispiel die Anteile an den Firmen den Bürgern der DDR schenken können. Dann wären zwei Jahre später fast alle Unternehmen pleite gewesen, denn die Bürger hätten kein Geld nachschießen können. Wir haben diese und andere Ideen diskutiert. Aber sie hätten viel, viel mehr Geld gekostet.
Was sind die größten Erfolge der Treuhand?
Die Frage kann ich nur für das Direktorat beantworten. Es war sicherlich die mit der Zeit aufgebaute vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den uns zugeordneten Beteiligungsunternehmen (Aufsichtsräte, Geschäftsführungen, Betriebsräte, Mitarbeiter). Über ein Unternehmen waren wir besonders stolz: Das war die Deutsche Waggonbau (DWA) mit Hauptsitz in Berlin, die anfänglich insgesamt 25.000 Leute beschäftigte. Ihr Problem war, dass sie etwas hatte, was der Westen nicht brauchte: mechanische Kapazität im Überfluss. Das Direktorat hat es geschafft, dieses Unternehmen als Ganzes zu erhalten – gegen den Widerstand der westlichen Wettbewerber und einiger Kräfte aus dem Umfeld der THA und sogar aus der THA. Es gelang, die DWA nach Beendigung der THA an Bombardier zu veräußern. Von den Arbeitsplätzen konnten wir weniger als 3.000 retten. Das war bitter, aber normal, denn bei marktfähigen Produkten war ein Unternehmen der DDR in der Lage maximal 45 Prozent der Belegschaft zu erhalten. Und das tüchtige Management der DWA hat das Unternehmen kräftig zurückgeschnitten. Diesen Wert von 45 Prozent haben nur sehr wenige Firmen erreichen können.
Warum gab es für Trabbi und Wartburg nicht einmal auf dem osteuropäischen Markt eine Chance?
Wir wussten zu Beginn unserer Arbeit nicht, in welcher Höhe Verluste in den Altwerken für Trabbi und Wartburg anfielen. Das haben die Verantwortlichen in den Unternehmen geschickt gegenüber der THA verheimlicht. Es stellte sich heraus, dass pro Auto 7.000 D-Mark Verlust nachhaltig anfielen. Dazu bestand keine Aussicht, diese Verluste zügig abzubauen. Die Alt-Werke mussten daher kurzfristig geschlossen werden. Inzwischen hatten General Motors/Opel in Eisenach an der Hörsel und VW in Mosel/Zwickau begonnen, vollständig neue moderne Werke zu errichten. Die Arbeiter waren hochgradig qualifiziert und verfügbar. Diese frühen Großinvestitionen haben dem Fahrzeugbau enorm geholfen. Die dritte Großinvestition war Mercedes in Ludwigsfelde. Mit der Abwicklung der Alt-Werke erfuhren wir, dass unter anderem der Wartburg für 3.000 D-Mark nach Belgien verkauft worden war. Damit war das Image dieses Produktes „verbrannt". Dazu kam, dass kaum ein Bürger in der DDR diese DDR-Autos kaufen wollte. Nach der Wende wurde der Gebrauchtwagenbestand der alten Bundesländer in die neuen Bundesländer transferiert, eine Konjunkturmaßnahme für die Automobilindustrie im Westen. Jeder im Osten wollte ein West-Auto haben.
Inwiefern hat die Treuhand den Osten verändert?
Wir haben versucht, die Industrie auf den Stand zu führen, für den die westdeutsche Industrie 40 Jahren Zeit gehabt hatte. Um die Menschen hat sich die THA nicht kümmern können, dazu war sie nicht ausgestattet. Das war – aus heutiger Sicht – sicher ein Fehler. Aber das hätte die THA auch nicht leisten können. Die die Unternehmen belastende Entscheidung – Wir wollen die D-Mark! – hat die DDR-Bevölkerung getroffen. Das will nur heute keiner mehr hören.
Haben Sie oder Ihre Kollegen sich je überfordert gefühlt angesichts dieser Mammutaufgabe?
Ja, anfänglich sicher, weil wir kein Wissen hatten über die Firmen. Und es war nichts Vorbereitendes organisiert. Wir saßen anfangs am Alexanderplatz in Berlin und hatten nur insgesamt sechs Telefone. Die Büros waren eine Katastrophe, ebenso die Konferenzräume und die Toiletten. Besser wurde das, als wir ins Haus der Ministerien, das ehemalige Reichsluftfahrtministerium, einzogen. Der Schlüssel zum Erfolg der THA war, dass die Struktur der THA – unter dem ersten Präsidenten Detlev Karsten Rohwedder – so geändert wurde, dass jedes Unternehmen eindeutige Ansprechpartner in der THA hatte (die Orientierung nach Branchen und nicht nach Funktionen wie vorher).
Was halten Sie von Forderungen nach einem Untersuchungsausschuss?
Es gab bereits zwei Untersuchungsausschüsse im Bundestag. Einen habe ich hautnah miterlebt. Warum soll es noch einen dritten geben? Man soll doch schauen, was die bisherigen herausgefunden haben. Allerdings sollte man besser das übergeordnete Thema in Angriff nehmen. Und das heißt DDR. Man sollte einen Untersuchungsausschuss zur ganzen DDR machen. Das wäre logisch, stört aber politische Kalküle.
Gab es Anfeindungen bei Ihrer Arbeit?
Ganz selten.