Das Tagebuch erlebt zurzeit ein echtes Revival. Die Anbieter versprechen, es mache den Menschen zufriedener, kreativer und produktiver. Was ist dran an dem Hype?
Lange galt das Tagebuch als nicht besonders cool. Jetzt aber erlebt es eine Rückkehr und findet wieder Platz in Bücherregalen und auf Schreibtischen. Neben dem echten Klassiker Tagebuch gibt es auch eine Art kleine Schwester, das sogenannte Journal. Im Journal muss man nicht seitenlange Texte verfassen, sondern kann einfach ein paar – meist vorgegebene – Fragen zum eigenen Tag und Befinden beantworten oder Dinge kurz vermerken. Das Schreiben von Tagebüchern und Journals sollen helfen, kreativer, zufriedener, produktiver zu werden. „Bullet Journal", „Dranbleiben", „Das 6-Minuten-Tagebuch" oder „The New You" sind nur einige Namen von Journals, die derzeit wie Pilze aus dem Boden schießen. Das klingt zunächst ziemlich nach Hype. Was also ist dran an der Methode?
Ob Schreiben hilft, wird schon seit den 80er-Jahren erforscht. Mittlerweile können zahlreiche Studien belegen, dass wir unserer Gesundheit tatsächlich etwas Gutes tun, wenn wir täglich zum Stift greifen. So hilft Schreiben nachgewiesenermaßen beim Umgang mit Stress und senkt den Blutdruck. Psychiater und Rheumatologen der State University of New York konnten in ihrer Forschung gar zeigen, dass Schreiben die Beschwerden von Menschen mit Asthma und rheumatoider Arthritis erleichtert. Es scheint also etwas dran zu sein am Hype. Wie und warum aber hat Schreiben diese Wirkung auf uns?
Alle Menschen schreiben für sich selbst, um sich dadurch besser oder zumindest klarer zu fühlen. Das kann in Form einer Notiz wie „genug Wasser trinken" oder „Pasta einkaufen" sein, aber auch in Form von Briefen an andere oder eben als Tagebuch. Durch das geschriebene Wort treten wir nicht nur mit der Außenwelt in Kontakt, sondern vor allem auch mit unserer Innenwelt. „Selbst, wenn ich einfach drauflosschreibe, ordnen und strukturieren sich meine Gefühle und Gedanken ein wenig. Ich kann sie gar nicht so, wie sie in mir existieren, aufs Papier bringen", erklärt es die Poesietherapeutin Silke Heimes. Sie ist studierte Ärztin und Germanistin und leitet das von ihr gegründete Institut für kreatives und therapeutisches Schreiben (Ikuts) in Darmstadt. Die Poesietherapie vereint Schreibtherapie und Bibliotherapie – nutzt also nicht nur das Schreiben, sondern auch das Lesen von fremden Texten für therapeutische Zwecke. Silke Heimes hilft anderen Menschen in ihrer Arbeit, schreibend ihre Gedanken zu ordnen und Gefühle zu klären. Aber auch im psychiatrischen und psychotherapeutischen Bereich, in der Trauer- und Sterbebegleitung, in der Sozialarbeit oder in der Kinder- und Jugendarbeit kann Poesietherapie eingesetzt werden.
Die kleine Schwester heißt Journal
Die positiven Effekte des Schreibens hat auch Ryder Carroll für sich entdeckt. Um zu verhindern, dass er Wichtiges vergisst oder sich nicht richtig fokussiert, schreibt er mehrmals täglich in sein Journal. Seine Probleme begannen in der Grundschule: schlechte Noten, resignierte Nachhilfelehrer und Sommerferien in Förderschulen und Therapieräumen. Ärzte diagnostizierten dann das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom bei ihm. Ryder Carroll war nicht in der Lage, sich zur richtigen Zeit auf das Richtige zu konzentrieren und voll anwesend zu sein. Seine Aufmerksamkeit brach ständig zu neuen, spannenderen Ufern auf. Während bei ihm Ablenkung auf Ablenkung folgte, häuften sich seine Verpflichtungen so lange an, bis ihn die Last schier erdrückte. Nachdem er eine Zeit lang herumprobiert hatte, fand er in einem Notizbuch die Lösung. Er gestaltete es nach seinen eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen. Heute heißt das offiziell „Die Bullet-Journal Methode" und ist ein echter Verkaufsschlager. Die Idee ist, dass das Journal To-do-Liste, Tagebuch, Planer, Skizzenbuch oder auch alles zugleich sein kann. Es kann helfen den Tag zu strukturieren, einen Monat zu planen oder ein Ziel anzupacken.
Kritiker hinterfragen, ob denn ein Tagebuch oder ein Journal tatsächlich zeitgemäß seien. Schließlich könne man zur Organisation seines Tages und seiner Gedanken oder zum Erlangen von Achtsamkeit doch auch zahlreiche und zum Teil kostenlose Apps nutzen. Ein entscheidender Punkt spricht dagegen: Ablenkung. „Wer in ein Notizbuch schreibt, konzentriert sich meist voll darauf. Computer und Apps laden aber gerade aufmerksamkeitsschwache Menschen dazu ein, abzudriften", weiß der Neuropsychologe Michael Niedeggen von der Freien Universität Berlin. Wer von Hand schreibe, durchlaufe eine verbale Schleife mehr. Das Gelernte verankere sich dadurch – man vergesse weniger.
Auch um Ordnung in den Geist zu bringen, eignet sich Schreiben sehr gut. Der Grund: Der Schreibprozess unterscheidet sich von unseren Gedanken, Schreiben ist linear. Während Gedanken vielschichtig und oft auch durcheinander sind, bringt der Mensch beim Schreiben einen nach dem anderen zu Papier. Das ermöglicht ihm, Klarheit zu finden. Was ist gerade wichtig? Was beschäftigt mich? Gibt es vielleicht auch belastende Dinge? „Wenn wir dann zum dritten Mal dasselbe schreiben, stoßen wir auf Grübelschleifen, die im Alltag als gewohntes Hintergrundrauschen vielleicht untergehen", erklärt Silke Heimes. Solch ein Aha-Moment könne neue Fragen und Perspektiven anstoßen. Die ewige Grübelei kann ein Ende finden. Das belegen auch verschiedene Studien, wie etwa die von Psychologin Dr. Eva Maria Gortner und ihren Kollegen der University of Texas in Austin, in denen Patienten durch das sogenannte expressive Schreiben depressive Symptome und grüblerische Gedanken reduzieren konnten. Die Kraft des Schreibens hat sich auch das „Zentrum Überleben" im Rahmen des Projekts „Lebenstagebuch" zunutze gemacht. Untersucht wurde dabei, ob und wie eine Schreibtherapie Kriegstraumatisierten helfen kann. 30 Überlebende des Zweiten Weltkriegs, die unter Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) litten, nahmen daran teil. Über sechs Wochen hinweg setzten sie sich in elf Texten mit ihrer Vergangenheit auseinander. Drei Monate nach Ende der Schreibtherapie wurde ihr Befinden nochmals überprüft: Insgesamt litten sie weniger unter den PTBS-Symptomen und erfreuten sich höherer Lebensqualität.
Was ist wichtig? Was beschäftigt mich?
Mithilfe des „Five Minute Journals" etwa kann der Nutzer täglich in kurzen Sätzen oder Schlagwörtern notieren, wofür er dankbar ist, was den Tag perfekt machen würde, was heute gut war und was am nächsten Tag gemacht werden soll. Viele widmen sich dem Dankbarsein am Morgen und reflektieren über das Geschehene am Abend. Für alle, die ganz bestimmte Dinge genau verfolgen und notieren wollen, bietet der Markt ebenfalls eine große Auswahl. Mithilfe des „Mood Tracker" wird das Journal beispielsweise in 30 Felder eingeteilt. Dann werden in einer Legende allen Gefühlen bestimmte Farben zugeordnet. Jetzt kann ganz unkompliziert die Laune festgehalten werden. Im Laufe eines Monats entsteht so ein Überblick, welche Tage top oder flop waren.
Der „Habit Tracker" soll helfen, dem inneren Schweinehund die Rote Karte zu zeigen und Neues zur Gewohnheit zu machen. Macht man genug Sport? Wird ausreichend Wasser getrunken und genügend Gemüse gegessen? Wie läuft eigentlich das Lernen für die nächste Prüfung? In einer Monatstabelle werden alle guten Vorsätze eingetragen. Dann wird jeden Tag markiert, was tatsächlich geklappt hat.
Der „Budget Planer" hat zum Ziel, einen Überblick über Finanzen zu schaffen und diese gezielt zu lenken. Auf der ersten Seite werden die monatlichen Fixkosten eingetragen und geprüft, ob die auch so hoch ausfallen wie erwartet. Eingeplant werden sollte auch Platz für Wünsche, auf die hin gespart wird. Auf der zweiten Seite stehen die täglichen Ausgaben.
Um vom Schreiben wirklich profitieren zu können, braucht es laut Silke Heimes aber vor allem Regelmäßigkeit. Sie empfiehlt, die Erwartungen an das eigene Schreiben und die Ergebnisse nicht zu hoch anzusetzen. Stattdessen solle man mit so wenig starren Regeln wie möglich drauflosschreiben. Für den Anfang genügten dabei auch Halbsätze, die man jedoch handschriftlich verfassen sollte. Um sich Druck zu nehmen, rät sie, lieber regelmäßig und kurz als selten und „bulimisch" zu schreiben.