Was wird aus Afrikas Wildnis? Weil der Tourismus zum Erliegen gekommen ist, befürchten Experten ein Aufflammen der Wilderei. Naturschützer hoffen auf Spenden, um ihre Arbeit fortsetzen zu können. Unterdessen kann man mit virtuellen Safaris im Busch unterwegs sein – und für die Zeit nach Corona neue Reisen buchen.
Ruhig Blut! Das befiehlt kühl der Verstand. Das Herz klopft trotzdem aufgeregt in der Brust. Denn die Tiere kommen näher und näher, langsam aber zielstrebig, die Augen auf den offenen Geländewagen gerichtet. „Seht ihr sie?", wispert der Guide in Richtung Kamera. Statt wie üblich klar und deutlich das Geschehen zu erklären, redet Shaun Marshall plötzlich mit Flüsterstimme. Dann macht er sich hinterm Steuer klein. Dafür gibt es viele gute Gründe. Genauer gesagt exakt 16: Ein Löwenrudel mit mehr als einem Dutzend Tieren marschiert direkt an seinem Auto vorbei. Abstand? Kein halber Meter. „Unglaublich schön! Aber natürlich war ich nervös", bekennt der Ranger später. Das überrascht nicht: Um die Fährten der Tiere im Sand besser sehen zu können, hat sein Toyota gar keine Fahrertür.
Auf Safari in Afrika: Das ist, wenn Mutter Natur mitspielt, oft unerwartet großes Kino. Shaun Marshall arbeitet für das Unternehmen And Beyond, das insgesamt 28 Camps und Lodges in einigen der schönsten Naturreservate des Kontinents betreibt. Sein Ranger-Training hat der junge Mann vor drei Jahren absolviert. Seither geht er in Südafrika im Ngala Game Reserve auf die Pirsch, einem jener privaten Schutzgebiete, die mit dem berühmten Kruger-Nationalpark verbunden sind. Ngala bedeutet Löwe in der Sprache der heimischen Shangaan, und der Name hält meist, was er verspricht: Weil es reichlich Beute gibt, sind die Rudel oft besonders groß. Außerdem leben in der Region zwei der legendären weißen Löwen: Deren Fell ist nicht wie üblich gelbbraun, sondern leuchtet wie Schnee. Leukismus heißt die genetische Besonderheit, die extrem selten vererbt wird. Noch vor ein paar Wochen hätte Shaun Marshall seine Löwen-Begegnung mit ein paar wenigen Gästen im Geländewagen geteilt. Doch weil sich das Coronavirus nun auch in Südafrika ausbreitet, sind dort seit dem 26. März die Unterkünfte geschlossen. Heute sitzt deswegen nur ein einsamer Kameramann hinter ihm, doch durch ihn spricht er zu mehr als Tausend Naturliebhabern in der ganzen Welt. Zweimal täglich, um 6 Uhr am Morgen und um 15 Uhr am Nachmittag, sendet And Beyond die Ausfahrten seiner Guides im Internet. Wer will, kann drei Stunden lang live auf Youtube und Facebook zuschauen, wie Shaun Marshall und weitere Ranger Tiere aufspüren und die Natur erklären – oder sich den Beitrag zu einem späteren Zeitpunkt anschauen.
Nicht immer gibt es derart dramatische Szenen zu sehen wie die Begegnung mit dem großen Löwenrudel der „Birmingham Pride". Doch wer sich hier nur auf die sogenannten Big Five konzentriert, also Elefanten, Nashörner, Büffel, Löwen und die scheuen Leoparden, verpasst den großen Rest: Allein 147 Säugetierarten, 507 Vogelarten, 114 Reptilien- und 34 Amphibienarten leben im Ökosystem. Die wunderlichen Baobabs und die 1.000 Jahre alten Leadwoods sind nur zwei der 336 Baumarten im vom südafrikanischen Staat verwalteten Kruger-Park, der bereits ohne die angrenzenden privaten Schutzgebiete so groß ist wie Sachsen-Anhalt oder Rheinland-Pfalz und damit eine gigantische Arche Noah.
Im Ngala Game Reserve leben die weißen Löwen
Nur der Homo turisticus ist nicht mehr an Bord: Für Besucher bleibt der Kruger geschlossen. Das gilt auch für die privaten Schutzgebiete in der Umgebung. Ein schickes Zeltcamp, eine edle Lodge, dazu für ein Glamping-Abenteuer ein stylishes Baumhaus: Normalerweise treffen sich im Ngala-Reservat Safari-Enthusiasten aus aller Welt. Doch weil Touristen aktuell nicht mehr nach Südafrika reisen dürfen, können sie nur vom Sofa aus zuschauen, was die Tiere so treiben. „Wildwatch" nennt andBeyond sein ambitioniertes Streaming-Programm. Die Idee dahinter: Auch wenn das Reisen aktuell verboten ist, bleibt das Träumen von einer Safari zu einem späteren Zeitpunkt ja noch erlaubt. Nur: Wie lange kann Afrikas Tourismusindustrie in der Krise durchhalten, bis ihr die Luft ausgeht? Und welche Folgen hat das Virus für Wirtschaft und Naturschutz?
Viele Airlines auf dem Kontinent kämpfen bereits jetzt ums Überleben. Amerika, Asien, Europa und die Golfstaaten können ihre aktuell nicht minder gebeutelten Fluggesellschaften mit Notkrediten unterstützen. Woher für solche Maßnahmen in Afrika das Geld kommen könnte, ist unklar. Die seit Jahren chronisch defizitäre Air Namibia hat die April-Gehälter bislang nicht ausgezahlt. Bei Ethiopian Airlines wurden die Mitarbeiter in Zwangsurlaub geschickt, doch die Rücklagen reichen nur noch wenige Monate. Südafrikas nationale Airline SAA ist technisch insolvent und steuert auf den Kollaps zu: Am 1. Mai steht die Entscheidung an, ob die Fluggesellschaft noch eine Zukunft hat. Doch ohne Flugverbindungen käme der Tourismus nach der Bewältigung der Corona-Pandemie kaum wieder schnell auf die Beine. Dabei sorgt allein Afrikas Safari-Industrie laut Berechnungen des World Travel and Tourism Council für 3,6 Millionen Jobs. Von den Löhnen hängen oft ganze Familien ab – insgesamt sind es knapp 25 Millionen Menschen.
Fahrer, Ranger, Köche, Putzfrauen: Sie alle haben Angst um ihren Arbeitsplatz. Nur wer Rücklagen hat, kann sein Personal halten. „Noch haben wir niemanden entlassen müssen", erzählt Beks Ndlovu. Der Guide aus Simbabwe hat vor 13 Jahren das Safari-Unternehmen African Bush Camps gegründet und beschäftigt mehr als 600 Mitarbeiter in vier Ländern. „Gäste haben wir zwar seit Wochen keine mehr. Aber wir können unsere Camps nicht einfach zumachen: Sie müssen in Schuss gehalten werden für den Tag X, an dem wir wieder öffnen können." Über eine Stiftung finanziert seine Firma außerdem 42 soziale Organisationen. Doch ohne die Spenden der Touristen wird irgendwann Schluss sein müssen mit den Schulspeisungen und der Gesundheitsaufklärung. Die Folgen wären in einem Land wie Simbabwe, das sich schon vor Corona in einer Wirtschaftskrise befand, dramatisch: „Das Virus kam wirklich zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt."
Am Tourismus hängen Familien
Auch Naturschützer schlagen Alarm. Auf vielen Hunderttausend Hektar Land im östlichen und südlichen Afrika setzt die Organisation Great Plains Conservation auf nachhaltigen Öko-Tourismus und bezahlt dafür den Landeigentümern eine Nutzungsgebühr. „Nationalparks und andere staatliche Schutzgebiete brauchen Pufferzonen, damit sie ihre Aufgabe erfüllen können", erklärt Gründer Dereck Joubert, ein bekannter Filmemacher von „National Geographic". So hat Great Plains in Botswana und Simbabwe ehemalige Jagdkonzessionen übernommen, die ausgeplündert worden waren. Nun klicken dort keine Knarren mehr, sondern nur noch die Fotoapparate der Touristen. In Kenia betreibt die Organisation am Amboseli-Nationalpark die Lodge Ol Donyo: Es ist die einzige Unterkunft auf dem Gelände der Mbirikani Group Ranch, einem überlebenswichtigen Korridor für wandernde Elefanten. Ebenfalls in Kenia bewahren kommunale Hegegebiete das Ökosystem von Maasai Mara und Serengeti. Tausende Familien hatten hier bislang ein geregeltes Einkommen. Doch nun ist das Erreichte in Gefahr.
„Es ist wichtig, dass die Leute weiterhin davon träumen, eines Tages wieder auf Safari zu gehen", meint Dereck Joubert. „Aber wir müssen jetzt sicherstellen, dass Afrikas Wildnis bis zu diesem Tag überlebt." Er rechnet wie andere Experten nach dem Ende der Ausgangssperren, die es aktuell in vielen afrikanischen Ländern gibt, mit einem Aufflammen der Wilderei. „Arme Menschen sind schlechte Naturschützer: Wer nicht mehr weiß, wie er seine Familie ernähren soll, greift nach jedem Strohhalm." Great Plains lässt seine Guides deshalb Patrouillen fahren und schult andere Mitarbeiter zu Wildhütern um. „Wir werden auch die nächste Zeit präsent sein, sonst haben die Wilderer freie Hand." Auf 500.000 Dollar beziffert Dereck Joubert die monatlichen Ausgaben seiner Organisation. Er appelliert deswegen an Naturfreunde in aller Welt, sich für den Erhalt der afrikanischen Ökosysteme zu engagieren. „Wenn der Busch einmal in Ackerland verwandelt worden ist, gibt es für das Wild dort keinen Platz mehr."
Ins gleiche Horn bläst Michael Merbeck, Gründer von Abendsonne Afrika. 4.500 Kunden reisen normalerweise Jahr für Jahr mit dem Boutique-Reiseveranstalter nach Afrika. Nur ein paar Unerschrockene erkundigen sich aktuell nach Reisen im kommenden Jahr, weil etliche Safari-Unternehmen angekündigt haben, die Preise 2021 nicht zu erhöhen. Sonst ist das Team mit etlichen Rückbuchungen beschäftigt. Laut Pauschalreisegesetz müssen Kundengelder aufgrund der Reisewarnung des Auswärtigen Amts stornierte Reisen zurückgezahlt werden.
„Das Virus kam zum schlechtesten Zeitpunkt"
Das bringt viele Veranstalter in eine Zwangslage, denn Airlines und Unterkünfte vor Ort lassen sich ihrerseits viel Zeit mit der Rückerstattung oder bestehen auf ihren strikten Stornoregeln aus der Vor-Corona-Zeit. „Wir appellieren deswegen an unsere Kunden, ihre Reise zu verschieben statt zu stornieren", kommentiert der Afrika-Spezialist. „Das ist ein Zeichen von Solidarität und ein Signal an die Leute vor Ort, dass es sich trotz der Schwierigkeiten lohnt, durchzuhalten."
Wann Reisen nach Afrika wieder möglich sein werden, weiß auch Michael Merbeck nicht. Doch statt den Kopf in den Sand zu stecken, hat er neben den klassischen Reisebausteinen für den November eine Sonderreise zu den Themen Nachhaltigkeit und Naturschutz geplant. Und sollte das nicht klappen, wird die Tour eben auf 2021 verschoben – was den genauen Zeitpunkt angeht, ist man notgedrungen flexibel. So oder so: Es soll nach Namibia gehen, ein Land fast zweieinhalb Mal so groß wie Deutschland, aber mit nur zweieinhalb Millionen Einwohnern. „Wer Sehnsucht hat nach Einsamkeit und Wildnis wird dort fündig", meint der Experte, „es ist ein Urlaub abseits von Menschenmassen".
Bei der Tour sollen vier Initiativen besucht werden, die sich erfolgreich für Naturschutz und nachhaltige Entwicklung engagieren. Es geht zu den seltenen Wüstenelefanten ins Damaraland, zu den Spitzmaulnashörnern am Etosha-Nationalpark, und zu einem Schutzprojekt für die pfeilschnellen Geparden. „Natürlich stehen wir auch in Deutschland vor gewaltigen Herausforderungen", meint Michael Merbeck. „Aber trotzdem dürfen wir Afrika nicht vergessen."