Identitäre, Linke, Autonome, AfDler und gewöhnliche Bürger demonstrieren gemeinsam gegen die Corona-Beschränkungen. Was bleibt von der „Querfront", wenn sich die „neue Normalität" breitmacht?
Es ist das erste richtig warme Wochenende Anfang April bei strahlendem Sonnenschein in Berlin. Vor dem Brandenburger Tor haben sich mittags etwa 100 Menschen versammelt. Ursprünglich wollten sie gegen die Flüchtlingspolitik demonstrieren, doch nun geht es trotz Demonstrationsverbot gegen die Corona-Verfügungen vom Bund und den Landesregierungen. Die Demo wird nach den Vorgaben des Infektionsschutzgesetzes aufgelöst, Personalien von Teilnehmern aus dem linken Lager von der Polizei notiert. Keine zwei Stunden später sammeln sich vor der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz scheinbar spontan weit über 500 Menschen. Auch hier geht es gegen die „Corona-Diktatur". Das Publikum ist allerdings eine sehr bunte Mischung. Aufgerufen hat unter anderem die „Kommunikationsstelle demokratischer Widerstand". Aber auch diverse Einzelpersonen haben in den sozialen Medien für die „1. Hygiene-Demo" getrommelt.
Seither versammeln sich dort jeden Samstag im April und auch noch Anfang Mai Menschen, denen die Maßnahmen zur Eindämmung vielleicht mehr Sorgen machen als die Pandemie selbst. Es sind erkennbar viele Linke, Linkspartei- oder MLPD-Embleme sind an den Jacken zu sehen. Dann tauchen einige auf, die man schon bei Aktionen der rechten Identitären-Bewegung gesehen hat. Aber auch sogenannte Autonome aus der anarchistischen Szene sind dabei. Mittendrin in diesem Querfront-Getümmel tauchen dann immer mal wieder weniger bekannte Gesichter der AfD aus dem Berliner Abgeordnetenhaus oder dem Brandenburger Landtag auf. Soweit lässt sich die Schar politisch noch halbwegs einordnen. Aber es sind auch viele ganz gewöhnliche Bürgerinnen oder „nur Menschen", wie es wörtlich heißt, auf dem Platz. Nach eigenen Angaben haben sie sich bislang noch nie für Politik interessiert. Alle zusammen skandieren immer mal wieder gemeinsam: „Gebt uns unser Land zurück!", „Wir sind das Volk!" oder aber „Wir sind Opposition". Richtig spannend wird es, als Rechte, Linke, unpolitische Bürgerinnen und auch ein paar Verschwörungstheoretiker zusammen das alte Volkslied „Die Gedanken sind frei" von Hoffmann von Fallersleben aus dem 19. Jahrhundert anstimmen. Fallersleben ist gerade bei der politischen Linken reichlich umstritten, hat er doch auch „Deutschland, Deutschland über alles" gedichtet.
Befragt man dann den bekennenden Anarchisten Lukas dazu, verweist der umgehend auf die Namensgeberin des Platzes, auf dem das alles stattfindet. „Rosa hat immer für die Freiheit der Gedanken gekämpft und gegen den Denkdogmatismus". Er meint das berühmte Zitat „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden". Wobei es der Kommunistin Rosa Luxemburg nicht gerade um demokratische Freiheitsrechte und Meinungsvielfalt ging. Doch genau darum geht es der Bürgerin Larissa. Im August wird sie 30, hat seit zwei Jahren eine Zahnarztpraxis und damit eine Menge Schulden. Zwar wurde ihr Beruf als „systemrelevant" eingestuft, trotzdem sagen ihre Patienten reihenweise ab. „Das kommt dann auch schon einem Arbeitsverbot gleich, wenn man den Leuten einredet, wie gefährlich ein Arztbesuch ist." Larissa geht es natürlich auch um das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Demonstrationsrecht, aber eines scheint klar: Nach den Corona-Lockerungen wird man sie als Demonstrantin hier nicht mehr sehen.
„Arbeitsverbot" und „Körperverletzung"
Das trifft ganz sicherlich auch auf die Sexarbeiterin Sabrina zu, oder aber auf die Bäckermeisterin Helga, die nun schon vier Samstage in Folge dabei waren. Sie alle eint offenbar der Schreck darüber, wie schnell durch das Infektionsschutzgesetz die demokratischen Grundrechte ausgesetzt werden konnten. Selbst Bundeskanzlerin Merkel gestand in ihrer Regierungserklärung am 23. April: „Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sind eine demokratische Zumutung."
Einige Aktivisten sehen in dieser „demokratischen Zumutung" die Zeit für eine neue politische Bewegung gekommen. Die Gründer von „Widerstand 2020" sind der Leipziger Rechtsanwalt Ralf Ludwig, Victoria Hamm, laut eigener Homepage Liebeskummerberaterin und „nur ein Mensch" und der HNO-Arzt Dr. Bodo Schiffmann, der sich selbst als „Leiter der Schwindel-Ambulanz" bezeichnet. Hamm warf aber wenige Tage nach dem Gründungsbeschluss ihren Parteivorsitz bereits wieder hin. Schiffmann hat einen Youtube-Kanal. Auf dem warnt er immer wieder, dass „am Ende einer Welle gegen eine Erkrankung geimpft werden soll, die es faktisch nicht mehr gibt. Das ist Körperverletzung."
Am 5. Mai hat nun die „Mitmachpartei" ihren Antrag zur Parteigründung beim Bundeswahlleiter eingereicht. Laut Angaben von „Widerstand 2020" hat man schon über 100.000 Mitglieder. Daran hat der Parteienforscher Dr. Hendrik Träger von der Uni Leipzig seine Zweifel. „Das kann ich mir nicht vorstellen, die Grünen haben über 40 Jahre gebraucht, um 100.000 Mitglieder zu akquirieren, das schafft man nicht in vier Wochen."
Das Parteiprogramm von „Widerstand 2020" ist ein lustiger Mischmasch: Mehr Tierwohl, selbstverständlich viel mehr Umweltschutz, dazu eine Bundeswehr ohne Auslandseinsätze und eine bunte Republik, in der aber jeder, der dazu kommen will, dies begründen und Sprachnachweise erbringen muss. Über allem stehen aber bei „Widerstand 2020" die Freiheitsrechte. Der Bürgerrechtskämpfer von 1848, Robert Blum, lässt grüßen. Also Forderungen von ganz links, über Grüne, FDP bis zur AfD. Für Parteienforscher Träger ist die Forderungsliste mehr als nachvollziehbar: „Man versucht, möglichst vielen Parteien ihre potenziellen Protestwähler abzujagen". Bei der Linkspartei, aber auch in der AfD beobachtet man „Widerstand 2020" sehr genau, denn sollte der Bundeswahlleiter die Partei tatsächlich Anfang Juni zulassen, könnte das vor allem diese beiden Parteien Wählerstimmen kosten, was sie sich allerdings auch selbst zuzuschreiben haben.
AfD verliert gegen „Widerstand 2020"
Sowohl Linke als auch AfD haben in der Corona-Krise über Wochen für sich keine einheitliche Linie gefunden. Linken-Chefin Katja Kipping warnte Ende April vor einer „Lockerungslobby" und plädierte für eine Beibehaltung der Freiheitsbeschränkungen. Co-Fraktionschef Dietmar Bartsch forderte dagegen dringend zu Lockerungen auf. Ähnliche Gefechtslage auch bei der AfD im Bundestag: Fraktionschefin Alice Weidel wollte noch härtere Einschränkungen im Kampf gegen die Pandemie, während ihr Co-Fraktionschef Alexander Gauland die Rückgabe der Freiheitsrechte für die „eingekerkerten Bürgerinnen und Bürger" forderte.
Obendrein haben Linke und AfD in den acht Wochen Corona-Alarm massiv an Zustimmung verloren. Besonders gefährlich für die AfD: Nicht nur „Widerstand 2020" könnte Wähler kosten, sondern viele Unionswähler, die 2017 AfD gewählt haben, kehren jetzt allen Umfragen zufolge wieder zur Union zurück. Im Deutschlandtrend Mitte Mai liegt die Union wieder bei 39 Prozent. Innerhalb von vier Monaten ein Plus von 14 Prozent.
Ansonsten nimmt das wirre Protesttreiben immer kuriosere Züge an, serviert von „Promi"-Figuren aus Musik, Fernsehküche oder Youtube. Deutschrapper Xavier Naidoo verwirrt zusehends nun auch seine hartgesottenen Fans mit fragwürdigen Clips. Vegan-Fernsehkoch Attila Hildmann will seine Schürze an den Nagel hängen und ist bereit für den „bewaffneten Kampf". Polit-Rambo Ken Jebsen klärt auf, hinter Corona stecke die Gates-Fundation, denn Bill und Melinda wollen angeblich alle zwangsimpfen. Was noch eine ziemlich harmlose Variante von Verschwörungstheorie ist.
Das „Protest"-Treiben scheint wie eine Mischung aus Walpurgisnacht, 1. Mai und Happening. Was von der „neuen Normalität" nach den Lockerungen bleibt, gehört zu den offenen Fragen, auf die derzeit die Antwort nur spekulativ sein kann.