Seit ein paar Jahren ist die Hauptstadt der malaiischen Insel Penang vor allem für eines bekannt: ihre einzigartige Street Art. Die bunten Bilder zieren die Wände der alten Kolonialgebäude in den Gassen der Stadt und haben die klassischen Sehenswürdigkeiten verdrängt.
Wie cool ist das denn? Da kann ich mich in ein Wandgemälde einfügen und neben Marilyn auf einer Bank sitzen, mich auf ein Glas Wein mit Mona Lisa verabreden, unter Beethovens kritischem Blick Klavier spielen, mich zu Mr. Bean aufs Fahrrad schwingen oder einen Tiger hinter mir herziehen. Initiator der außergewöhnlichen Kunstwerke ist der litauische Künstler Ernest Zacharevic, der 2012 während des „George Town Festivals“ im Auftrag der Stadt die ersten sechs Bilder auf Hauswände zauberte und dabei echte Gebrauchsgegenstände wie Fahrräder, Mopeds oder Stühle in fotorealistisch gemalte Alltagsszenen integrierte. Dank sozialer Netzwerke verbreiteten sich Fotos der Murals in Windeseile um den Globus und machten Zacharevic zum Superstar der Szene. Die BBC nannte ihn die Antwort Malaysias auf Bansky.
Von drei Italienerinnen erfahre ich, dass sie allein wegen der einzigartigen Wandgemälde nach George Town gekommen sind. Sie stellen sich in passender Pose neben die Bilder, setzen sich auf Fahrrad, Schaukel oder Stuhl und werden so Teil der Szene, während ich sie auf ihre Bitte hin auf ihren Smartphones und Kameras festhalte. Mehr als 25 Gemälde gibt es mittlerweile in verschiedenen Gassen der Stadt. Viele, aber nicht alle stammen von Zacharevic.
Der Erfolg des Künstlers führte beim Festival 2013 zum „101 Lost Kittens“-Projekt der Künstlergruppe ASA (Artists for stray animals). Hinter ASA stecken Natthaton Muangkliang aus Thailand und Tang Yeok Khang sowie Louise Low aus Malaysia. Die drei malten Katzen in allen Variationen und Situationen auf Hauswände und Mauern, um auf die zahlreichen streunenden Tiere auf der Insel aufmerksam zu machen. Die Katzen-Murals sind ebenso beliebt wie Zacharevics Bilder, denn auch sie lassen Besucher Teil der Szene werden.
Mit ihrer Kunst haben Zacharevic und ASA die Sehenswürdigkeiten in George Town verschoben. Historische Gebäude, Museen, Moscheen und Tempel stehen vor allem für junge Touristen nicht länger auf der Bucket List. Für mich schon. Nach zwei Stunden Street Art in erbarmungsloser Hitze – der Äquator ist nicht weit – mache ich mich auf den Weg zu den Clan Jetties am Weld Quay. Dort steht ein ganzes Dorf auf Stelzen im Wasser. Jetty ist das englische Wort für Landungssteg, und genau das waren die Jetties im 19. Jahrhundert: Landungsstege für Lastkähne. Chinesische Arbeiter entluden damals die vor der Küste liegenden Handelsschiffe und brachten die Waren auf Transportbooten an den Kai. Chinesischstämmige Familien schlossen sich zu Clans zusammen und teilten sich das Geschäft auf. Da schnelles Ent- und Beladen oberstes Gebot waren, ließen sich die Clans direkt an den Landungsstegen nieder. Sie errichteten Häuser, Tempel und Schreine auf Stelzen im Wasser, die durch Stege mit dem Land und untereinander verbunden waren. Wegen Platzmangels breiteten sich die Stelzenhäuser immer weiter aufs Meer hinaus aus, sodass Handelsschiffe am Steg des jeweiligen Clans anlegen konnten, was Transportboote überflüssig machte. Heute betreiben die Clans auf den Jetties Verkaufsbuden, Souvenirläden und Restaurants.
Prachtvolle, reich verzierte Villa aus dem 19. Jahrhundert
Es ist leicht, sich in dem Labyrinth aus Holzstegen zu verlieren. Durch die Ritzen der alten Planken schimmert das Wasser. Unter den Vordächern der dunkelbraunen Hütten baumeln rote Laternen, alte Männer dösen auf Stühlen am Eingang, eine Frau kniet mit gesenktem Haupt vor einem Schrein und entzündet ein Räucherstäbchen. Der Duft von Weihrauch liegt in der Luft. Auf manchen Häusern prangen Gemälde – auch hier hat die Street Art Einzug gehalten.
In Chinatown, nordöstlich der Clan Jetties, steht die reich verzierte Peranakan Mansion. In der Villa lebte einst der schwerreiche Zinnminenbesitzer Chung Keng Kwee, dem die Engländer 1877 den Titel „Kapitan Cina“ verliehen, was ihn bemächtigte, als Vertreter mit den malaiischen Sultanen und der britischen Kolonialmacht über alle Belange der ethnischen Chinesen zu verhandeln. Der „Kapitan“ gehörte zur Gruppe der Peranakan, Nachkommen gemischter chinesisch-malaiischer Paare, die eine eigene ethnische Identität und kulturelle Traditionen entwickelten.
Was für eine Pracht, dieses Haus! Die Bögen, Türen und Wände sind mit aufwendigen Schnitzereien verziert, kunstvoll bemalt oder mit Gold plattiert. In den Zimmern stehen wuchtige Holzmöbel mit Intarsien aus Perlmutt, prachtvoll gedeckte Tische, an den Wänden hängen kunstvolle Gemälde und alte Fotografien der Familie. Die unzähligen Räume sind übervoll mit Antiquitäten, Büsten, Statuen und Sammlerstücken, ein Zimmer steht voller Vitrinen mit Kleidungsstücken, Kopfbedeckungen und einem Sammelsurium an chinesischen Schuhen des 19. Jahrhunderts. Manche Schuhe sind so schmal, dass man sich fragt, wie da je ein Fuß hineinpasste. In einem Raum mit einem Schrein steht ein Hochzeitspaar samt Fotografen. Die beiden tragen rote, mit Gold verzierte Roben. Die Farbe Rot soll den frisch Vermählten Glück bringen. „Sie sind beide Peranakan“, sagt der Tourguide. „Wenn ein Peranakan-Paar nach der Trauung im Haus von Kapitan Cina vor dem Schrein kniet, bedeutet das Glück, Segen und ein langes Eheleben.“