Sportlegende Täve Schur hat sein Rad nach 89 Lebensjahren in die Ecke gestellt, kleine Runden ausgenommen, und vor Kurzem sein neues Buch „Was mir wichtig ist" veröffentlicht.
Zweifacher Radweltmeister, Olympia-Zweiter, neunmal in Folge DDR-Sportler des Jahres und in einer Umfrage populärster Sportler des Ostens – noch vor Kati Witt, Jens Weißflog und den Ex-Stars der Leichtathletik: Täve Schur ist eine lebende Legende, ein Radgenie, das bis heute einmalig bleibt. Zwölfmal nahm er an der Friedensfahrt teil, die er zweimal gewann. Sport und gesunde Ernährung scheinen ihn immer noch fit zu halten –
fast 90 Lebensjahre sieht man Täve Schur nicht an. Sein Leitspruch: „Der Mensch bewegt sich nicht weniger, weil er alt ist. Er wird alt, weil er sich weniger bewegt. Also: Beweg dich!"
Bis heute bekommt Täve (eigentlich Gustav-Adolf Schur) unzählige Briefe, Autogrammwünsche und Anfragen für Veranstaltungen. Weil er mit der Beantwortung hinterherhinkt, schrieb er nun wieder ein Buch – mit den dringlichsten Antworten. In „Was mir wichtig ist" zeigt sich der bekennende Ossi als meinungsfreudiger und humorvoller Autor.
Entstanden sei das Werk vor allem in der heimischen Küche in Heyrothsberge bei Magdeburg. „Hier sitze ich zum Arbeiten gern. Die Küche ist in den letzten Jahren zu meinem Hauptarbeitsplatz geworden", schmunzelt Schur. Zwischen Herd und Kühlschrank beantwortet er unzählige Briefe und Postkarten, die ihn nach wie vor erreichen. „Das ist für mich eine moralische Verpflichtung. Ich nehme jede Zuschrift ernst", betont die Radsportikone. Als Bürde empfinde er Post und Erwartungshaltung der Fans nicht. „Zusammenhalt ist eine Eigenart von uns Ex-DDRlern. Dem trage ich Rechnung, übrigens auch auf Veranstaltungen, Lesungen oder kleinen Radrunden. Heimat schweißt eben zusammen."
Apropos Radrunden: Die führen Täve Schur immer wieder auch ins Märkische, wie im Gespräch zu erfahren ist. „Da komme ich beispielsweise nach Ostbrandenburg, nach Beiersdorf-Freudenberg, um genau zu sein. Hier organisieren Bürgermeister, fleißige Helfer und frühere Sportkameraden tolle Radsporttreffen. Nach einer Rundfahrt wird Fußball gespielt und wir sitzen hinterher gesellig zusammen", schwärmt Täve von diesen Events, die frühere Aktive und Hobbysportler zusammenbringen. Mit Brandenburg verbunden bleibt auch einer seiner ersten Triumphe. Am 23. September 1951 siegte der Ausnahmesportler bei der Tour Berlin – Lebus – Berlin.
Die Fanpost empfindet er nicht als Bürde
Dann kommt das Gespräch auf die Corona-Epidemie, die das Leben in Deutschland seit Wochen lahmlegt. Der Virus-Gefahr musste sich auch Täve beugen, der den Kontakt zu seinen Liebsten gerade auf ein Minimum beschränkt. Seine Meinung zu dem Thema passt zum Sachsen-Anhaltiner. So furchtbar Corona auch sei, so sehr ist die Krise für Schur auch eine Chance zum Nachdenken darüber, was wir mit unserem Planeten anstellen. „Wir machen die Natur nieder. Wir machen die Tiere nieder. Unsere Autos werden dafür immer größer. Wenn es so weitergeht, fährt bald jeder Lkw", lässt Täve kurz seinen typischen Galgenhumor aufblitzen. Um gleich wieder ernst zu werden: „Die Menschheit muss aufpassen. So wie in den letzten Jahren kann es nicht weitergehen", mahnt der Mann, der für die frühere PDS (heute: Die Linke) vier Jahre im Bundestag saß. In Deutschland lebe man geborgen und sicher. Das habe anscheinend viele eingelullt. „Manche wissen gar nicht, wie gut es ihnen geht. Doch das alles ist kein Selbstläufer", sagt er.
Das Thema zu wechseln, scheint nach diesen Worten schwer. Für viele Leser sei interessant, wie der Buchautor zu seinem Spitzname kam. „Täve kommt von Gustav, mein bürgerlicher Vorname. Ein Sportkamerad der BSG Aufbau Börde Magdeburg nannte mich in den 50er-Jahren mal so. Dabei blieb es", lächelt der sympathische Gesprächspartner. Zu Hause sei er allerdings der „Vati", wie ihn Gattin Renate und die Kinder nennen.
Bei der Frage nach wichtigen Siegen spielt nicht etwa die Friedensfahrt oder ein WM-Titel die erste Rolle, sondern eine Waschmaschine. Die gab es in den 60er-Jahren bei einem lokalen Rennen in der DDR zu gewinnen. „Ich war zwar Weltmeister. Aber was nutzte das meiner Mutter, die unsere Wäsche immer noch per Hand wusch", fragt Täve mit Augenzwinkern. Der Börde-Star nahm am Wettstreit teil und holte sich die Maschine. Wie er sie nach Hause transportierte? Natürlich im eigenen Trabant. „Dafür musste ich vorn einen Sitz ausbauen. Mach das mal mit einer schicken Limousine. Im Trabi ging’s", scheint sich Täve noch heute über das Transport-Manöver zu amüsieren. Ausführlicher beschreibt er die Episode im Buch.
Das schlimmste aller Dopingmittel sei Geld, sagt er
Da das Sporidol des Ostens seine große Karriere bereits 1964 beendete, liegt die Vermutung nah, dass sich seine Popularität auch auf dem gründet, was er später tat und sagte. In „Was mir wichtig ist" versucht er dieses Phänomen zu erklären. Auch das Thema Doping spart Täve Schur in der Lektüre nicht aus. Doping sei zu verurteilen – in Ost und West. Der Ex-Radweltmeister erwähnt die Tour de France, deren Gesamtsieger Jan Ullrich und Lance Armstrong (wegen Doping alle Siege aberkannt), 5.000-Meter-Lauf-Olympiasieger Dieter Baumann, aber auch das „Wunder von Bern", den sensationellen Sieg der Deutschen bei der Fußball-WM 1954 in der Schweiz. Nach allem, was heute bekannt ist, wurde der Triumph auch mit dem Aufputschmittel Pervitin erreicht. Es sei einigen Spielern vor dem Endspiel gespritzt worden, beruft sich Schur auf einen Bericht des Nachrichtenmagazins „Focus" im Oktober 2010. Grundlage des Beitrags war eine Studie für die Berliner Humboldt-Universität.
Doch das schlimmste aller Dopingmittel sei Geld, erklärt er. Moneten hätten beinahe den gesamten Leistungssport verdorben. Er selbst sei einst für die Menschen am Straßenrand sowie an den Radios und an den wenigen TV-Bildschirmen gefahren, „nicht für Werbeverträge und Kohle". Täve schwört, selbst nie irgendwelche Mittel genommen zu haben: „Wenn es nicht so wäre, wäre ich längst tot oder schwer krank", sagt der Familienvater und siebenfache Opa. Der zeigt sich im Interview nicht nur als Sportsmann, sondern auch als witziger Typ. In einem anderen Leben wäre er vielleicht Humorist oder Entertainer geworden.
Große Radtouren macht der Heyrothsberger übrigens nicht mehr. Nach einer 120-Kilometer-Ausfahrt sei er 2019 ohnmächtig geworden. „Mit beinahe 90 noch solche Strecken? Das muss nicht sein. Man soll sein Schicksal nicht herausfordern." 80 Jahre auf Rädern müssten reichen – kleine Runden und Traditionstreffen ausgenommen. Den Eichenprozessionsspinner im eigenen Garten sauge er in luftiger Höhe jedoch noch selber ab, wie man seinem Buch „Was mir wichtig ist" entnehmen kann. Fit hält sich Täve Schur den eigenen Worten nach mit Bewegung an der frischen Luft, gesunder Ernährung (viel Grünzeug, wenig Zucker, wenig Fleisch) sowie mit Familien-Aktivitäten.
Seit 1962 ist er mit seiner Renate verheiratet, eine lange Zeit, die zusammenschweißt. Familienzusammenhalt sei aber auch eine moralische Verpflichtung, wie er erklärt. 100 Jahre alt würde er schon gern werden, lächelt der drahtige Ostdeutsche: Weil ihn die Menschen noch so viel fragen und er die Deutungshoheit über Ost-Sportgeschichte nicht Leuten überlassen will, die sie gar nicht miterlebten.