Der Saisonabbruch in der Regionalliga Nordost führt dazu, dass Spitzenreiter VSG Altglienicke dem Tabellenzweiten Lok Leipzig den Vortritt lassen muss.
Am Ende nutzte es alles nichts – nicht, dass Fußballikone Torsten Mattuschka auf seine ihm eigene Art Partei ergriff, und nicht, dass der Sportliche Leiter Daniel Böhm am Tag vor der Entscheidung noch mal ausführlich in der „Berliner Zeitung" zu Wort kam. Der VSG Altglienicke widerfuhr schließlich doch das erwartete Schicksal, trotz Tabellenführung nicht zum Meister der Regionalliga Nordost gekürt und obendrein deren Vertreter in den Aufstiegsspielen zur 3. Liga zu werden. Denn der Nordostdeutsche Fußball-Verband (NOFV) entschied auf seiner außerordentlichen Sitzung Anfang Juni, die Meisterschaft in seiner höchsten Spielklasse abzubrechen – dies jedoch war gleichbedeutend mit dem Titelgewinn des Tabellenzweiten 1. FC Lokomotive Leipzig. Und das kam so: im Fall eines Abbruchs der Spielzeit 2019/20 aufgrund der Coronavirus-Pandemie sollte eine Quotientenregelung angewendet werden. Diese Maßnahme war auf die Tatsache zurückzuführen, dass viele Teilnehmer der Nordost-Staffel zum Zeitpunkt der Ligaunterbrechung eine unterschiedliche Anzahl an Partien absolviert hatte. So auch die beiden Topteams der Liga: die VSG Altglienicke lag da zwar aufgrund des besseren Torverhältnisses auf Platz 1, die punktgleichen Leipziger aber hatten ein Spiel weniger bestritten. Somit war die Ausgangslage unmittelbar vor der Entscheidung des NOFV relativ eindeutig.
Bei der VSG hatte man jedoch eine „sportliche Lösung" gefordert: ein Entscheidungsspiel zwischen Altglienicke und Leipzig. Denn besagte Quotientenregelung habe schließlich „mit Sport nichts zu tun", wie Co-Trainer Mattuschka Mitte Mai in einem Interview erklärte – und fügte gewohnt launig an: „Wir sind nicht bei der Mathe-Olympiade." Die Ikone des 1. FC Union Berlin machte dazu geltend, dass man neben der Tabellenführung schließlich auch die Herbstmeisterschaft vorzuweisen habe und am letzten Spieltag noch im direkten Duell in Leipzig aufeinandergetroffen wäre. Daniel Böhm hingegen beschritt den diplomatische(re)n Weg, um die Chance seiner Volkssportgemeinschaft aus Berlins Südosten zu erhalten. Der umtriebige Sportliche Leiter sorgte dafür, dass der Club sämtliche Hausaufgaben bis zum Tag der Entscheidung erledigt hatte. Die Bewerbungsunterlagen für die 3. Liga wurden eingereicht, selbst die für diese Klasse notwendige Spielstätte mit ausreichendem Flutlicht zauberte der in der Bau- und Montagebranche tätige 43-Jährige noch rechtzeitig vor der Abstimmung beim NOFV aus dem Hut. Kein geringerer als Bundesligist 1. FC Union, ebenso im Bezirk Treptow-Köpenick beheimatet, vermeldete, dass die VSG das Stadion Alte Försterei für Abendspiele nutzen dürfe.
Eindeutige Ausgangslage
Die VSG Altglienicke, das ist so etwas wie Böhms Baby. Der Verein, der zu DDR-Zeiten keine große Rolle im Fußball spielte, kickte 2004 noch in der Kreisliga B – dann folgte quasi der unaufhaltsame Aufstieg, wenn auch nicht immer auf ganz direktem Weg. Als die höchste Hauptstadtspielklasse, die sechstklassige Berlin-Liga, auch nicht mehr den Ansprüchen genügte, stand man beim „Dorfverein" in der Oberliga vor der Situation, dass die betagte Infrastruktur auf der Sportanlage unweit des Flughafens Schönefeld dringend einer Sanierung bedurfte. Für einen professionellen Planer wie Böhm aber kein Problem: Um die Umbaukosten stemmen zu können, zog die VSG im Jahr 2014 freiwillig aus der teuren Oberliga zurück. Nach zwei Jahren in der Berlin-Liga folgten dann gleich zwei Schritte vorwärts: Die Altglienicker marschierten durch bis in die Regionalliga Nordost. Während die meisten Beobachter die Erfolgsgeschichte des Vereins zwischen märchenhaft und verrückt einsortierten, setzten sich Böhm und die VSG schon wieder neue Ziele. Denn so schön die Regionalliga auch für einen ehemaligen Kreisligisten erscheinen mag, so gilt sie gerade für Clubs mit wenigen Zuschauern als zu kostspielig. Dazu zwang der Aufstieg die Altglienicker, ihre sportliche Heimat zu verlassen –
wegen der höheren Sicherheitsauflagen in der Viertklassigkeit zog man um in den Jahnsportpark. Daran änderte sich auch nichts durch die Tatsache, dass die VSG immer wieder namhafte Ex-Profis verpflichtete – neben dem erwähnten Mattuschka schnürten etwa auch Björn Brunnemann, Chinedu Ede, Kevin Pannewitz oder Boubacar Sanogo mehr oder minder erfolgreich über die Jahre hinweg die Stiefel für den „No-Name-Club".
Ein langer Atem wird benötigt
Der Sportliche Leiter sah angesichts der neuen Gemengelage nur zwei Möglichkeiten: perspektivisch die 3. Liga anzupeilen und eine eigene Spielstätte im heimatlichen Bezirk zu errichten – oder wieder zwei Schritte zurück in die Berlin-Liga zu gehen. Also machte Böhm sich an die Arbeit, um die Chancen für ein eigenes Stadion auszuloten – durch seine Erfahrungen im Berufsleben kennt Böhm dabei natürlich sämtliche Schritte, die bei einem solchen Projekt nötig sind. Vom Bund wurde inzwischen bereits eine Unterstützung von über einer Million Euro für das Vorhaben erzielt. Sollte der Bezirk nun die Co-Finanzierung zumindest in weiten Teilen übernehmen, steht dem Bau der kleinen, drittligatauglichen Arena an der Köpenicker Landstraße nichts mehr im Weg. Umso besser hätte ein Aufstieg in diesem Jahr gepasst – auch wenn die Verantwortlichen in Altglienicke diesen nicht wirklich auf der Rechnung hatten. Doch mit Karsten Heine – noch so einer mit Union-Stallgeruch, aber auch viel Erfahrung im Trainergeschäft – wurde offenbar der richtige Trainer vor der Saison geholt. Der 65-Jährige passt haargenau zur neuen Ausrichtung der VSG – weg von den Ex-Profis hin zu hungrigen Spielern jeder Altersklasse. Da schon zur kommenden Saison in der Nordost-Staffel aber gleich mit mehr als einem Absteiger aus der 3. Liga zu rechnen ist, könnte es bis zur nächsten Aufstiegsgelegenheit einen langen Atem brauchen. Doch selbst bezüglich der Aufstiegsspiele in diesem Jahr gegen den West-Ersten hat man die Flinte immer noch nicht ins Korn geworfen. „Wir haben alle wirtschaftlichen Aspekte erfüllt, Altglienicke meint das ernst", zeigte sich Böhm jedenfalls auch für den Fall der Fälle vorbereitet – und fügte vielsagend hinzu: „Leipzig hat die Lizenz ja auch noch nicht."