Das Timing für die Nominierung von Olaf Scholz hat gestimmt. Die SPD hat mit ihrer Personalentscheidung für einigen Wirbel gesorgt und die politische Konkurrenz unter Zugzwang gesetzt. Bundestagsfraktionschef Rolf Mützenich über Führungsanspruch und politische Akzente der SPD.
Herr Mützenich, in der Bundespolitik hat die Entscheidung für Olaf Scholz teilweise große Aufregung ausgelöst. Verstehen Sie die Aufregung?
Aus meiner Sicht braucht sich niemand aufzuregen. Die SPD hat für Klarheit gesorgt. Das Präsidium und der Parteivorstand haben auf Vorschlag der beiden Parteivorsitzenden einstimmig Olaf Scholz als Kanzlerkandidat nominiert. Das ist ein deutliches Signal an die Öffentlichkeit, dass die SPD mit dem Anspruch zur Bundestagswahl antreten will, um die nächste Bundesregierung anzuführen. Ich fand auch die Argumente, die die beiden Parteivorsitzenden dafür vorgetragen haben, überzeugend. Manche Äußerungen der politischen Konkurrenz fand ich dagegen etwas gewöhnungsbedürftig, etwa dass man in den Zeiten von Corona eine solche Entscheidung nicht treffen darf. Ich finde, andersherum wird ein Schuh draus. Andere Kandidatinnen und Kandidaten, die sich auch um das Amt bewerben, brauchen offensichtlich Corona, um sich zu präsentieren. Das brauchen wir nicht.
Die SPD ist in der Vergangenheit für viele Personalentscheidungen heftig gescholten worden. Diesmal habe die SPD alles richtig gemacht, befanden Kommentatoren.
Mir hat es gutgetan, wenn es ehrlich gemeint gewesen ist. Wir wollen ja auch aus Fehlern der Vergangenheit lernen.
Sie sprechen von den „Möglichkeiten der progressiven Seite", heißt das Rot-Rot-Grün?
Es heißt auf jeden Fall eine Alternative zum jetzigen Bündnis, der großen Koalition. Wir wollen in der nächsten Legislaturperiode ein Bündnis anführen, das das Wahlprogramm, das wir jetzt erarbeiten, so gut wie möglich verwirklichen kann. Ich bin sehr froh, dass wir ein Sozialstaatskonzept haben, mit dem wir nach vorn schauen und alte Diskussionen über die sogenannten Hartz-IV-Reformen hinter uns lassen. Unser Sozialstaatskonzept setzt bei den Kinder und Familie an, und es sieht ein Recht auf Weiterbildung vor. Ein weiterer Schwerpunkt, der auch Olaf Scholz besonders wichtig ist, neben den Herausforderungen durch Corona, Respekt für die Leistungen des Einzelnen und dem Umbau der Industriegesellschaft ist Europa, und, was auch mit meinen Erfahrungen und den Schwerpunkten, die ich in der Vergangenheit zu verantworten hatte, zusammenhängt: eine Friedens- und Entspannungspolitik. Das sind die Themen, die wir in den Mittelpunkt stellen werden.
Nicht nur, aber vor allem auch die Jusos haben deutlich Gesprächsbedarf über Inhalte und Themen angemeldet. Es gibt also noch erheblichen Klärungsbedarf?
Den gibt es immer, auch auf den unterschiedlichen Ebenen. Es gibt in den Kommunen, in den Ländern und auch auf Bundesebene unterschiedliche Sichtweisen und Überzeugungen, die für das Wahlprogramm eingebracht werden. Es gibt ja das Antragsrecht auch für Ortsvereine und für die unterschiedlichen Gliederungen, wie eben die Jusos. Und warum sollen die Jungsozialisten nicht wie in der Vergangenheit Antreiber sein für unterschiedliche Konzepte? Und am Ende werden wir das zusammenbringen.
Die Pandemie hat lange schwelende globale Konflikte verschärft. Was ist aus Sicht des Außenpolitikers Mützenich die zentrale Herausforderung für Deutschland?
Es gibt eine Menge, was das internationale System, wie wir es aus der Vergangenheit kennen, verändern wird. Die Veränderung ist zurzeit im Gang. Das hat auch etwas mit der Auseinandersetzung zwischen den USA und der Volksrepublik China zu tun. Es kann sein, dass es zu einer hegemonialen Auseinandersetzung kommt wie damals zwischen den USA und der Sowjetunion. Es kann aber auch eine Aufteilung von Macht in den jeweiligen regionalen Zusammenhängen sein, wo sich beide arrangieren. Alles das wird aber über die Köpfe anderer Regionen passieren und eventuell dann auch über die Köpfe Europas hinweg. Für mich ist eine der großen Fragen die Unberechenbarkeit. Aus den Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts ist versucht worden, Unberechenbarkeiten durch Regeln, durch Institutionen einzuhegen. Ich glaube, wir müssen uns auch deshalb daran machen, die Europäische Union so stark zu machen, dass wir nicht möglicherweise in den Strudel der Auseinandersetzung zwischen den USA und der Volksrepublik China geraten.
Wie groß ist der Einfluss, den Außenminister Heiko Maas dabei geltend machen kann?
Ich bin sehr dankbar, dass Heiko Maas die Möglichkeiten nutzt, die sich Deutschland insbesondere derzeit als nicht ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat bieten, Themen auf die Tagesordnung zu setzen und Initiativen zu ergreifen, wie zum Beispiel zur Stärkung des Multilateralismus und zum Schutz von Kindern in kriegerischen Konflikten. Auch die Fragen der Abrüstung hat er wieder in den Vordergrund gestellt. Es ist deshalb sehr wichtig, dass die Sozialdemokratie in diesem Bereich Verantwortung trägt.