Trumps Herausforderer Joe Biden landet einen Coup – doch das Rennen bleibt offen
Sie ist jung, attraktiv und eloquent: Mit Kamala Harris als Vize ist dem demokratischen US-Präsidentschaftskandidaten Joe Biden ein Coup gelungen. Zumindest auf den ersten Blick. Die 55-Jährige strahlt Frische und Energie aus, die dem 77-Jährigen Biden abgeht. Der Herausforderer von Amtsinhaber Donald Trump gilt zwar als grundsolide. Aber er hat einen Hang, sich zu verhaspeln, und verliert immer wieder mal den Faden.
Erfahrung und neue Kraft sind eine gute Mischung. Insofern dürfte Biden von dem Harris-Effekt profitieren. Zumal sich der Demokrat kein Mauerblümchen an die Seite geholt hat, sondern eine zugkräftige Politikerin, die das Rampenlicht nicht scheut. Bidens Wahl darf man durchaus als Vorentscheidung sehen. Er begreift sich selbst als „Übergangskandidaten". Sollte er am 3. November gegen Trump gewinnen, dürfte er am Ende seiner ersten Amtszeit – dann 82-jährig – der Vize-Frau Platz machen.
Harris ist politisch erfahren. Die Demokratin vertritt seit fast vier Jahren Kalifornien im US-Senat. Zuvor hatte sie zwei Wahlen zur Generalstaatsanwältin im bevölkerungsreichsten Bundesstaat für sich entschieden. Die Tochter eines Wirtschaftsprofessors aus Jamaika und einer Ärztin aus Indien verkörpert zudem den amerikanischen Traum. Der „American Dream", wonach jeder Mensch unabhängig von seiner Herkunft durch harte Arbeit seinen Lebensstandard verbessern kann, war unter Trumps Abschottungspolitik stark lädiert. In Harris‘ Biografie scheint er neu auf. Es ist ein kräftiges Symbol, dass Biden nach dem Tod des Farbigen George Floyd erstmals in der Geschichte der Vereinigten Staaten eine dunkelhäutige Frau zum „running mate" berufen hat.
Darüber hinaus verfügt die Vize-Kandidatin über Nahkampf-Qualitäten. In Washington ist unvergessen, wie Harris vor knapp zwei Jahren im US-Senat Brett Kavanaugh löcherte, Trumps umstrittenen Anwärter auf einen Posten im Obersten Gerichtshof.
Harris vertritt gemäßigte Positionen. Ihre ursprüngliche Forderung nach einer Krankenversicherung für alle ließ sie während ihrer zeitweiligen Präsidentschaftskandidatur im Sommer 2019 fallen – aus Angst, Wähler in der Mitte zu verprellen. Als Generalstaatsanwältin Kaliforniens stand sie für eine Law-and-Order-Politik, um die Kriminalität einzudämmen. Trump dürfte es daher schwerfallen, Harris als „radikale Linke" zu stigmatisieren.
Gleichwohl weist Harris Schwachstellen auf. Kalifornien ist traditionell eine Hochburg der Demokraten. Wer hier politisch Erfolg hat, muss nicht automatisch in den heiß umkämpften „battleground states" wie Michigan, Wisconsin oder Pennsylvania auf der Siegerstraße sein. Ob dort eine farbige Frau aus einem eher links verorteten Bundesstaat Biden Punkte bringt, ist offen.
Außerdem fragen sich viele Amerikaner: Wofür steht Harris genau? Auch Biden hat noch kein schlüssiges Alternativ-Programm zu Trump vorgelegt. Die inhaltlichen Lücken sollten beim Parteitag der Demokraten in dieser Woche vor allem mit Psycho-Injektionen ausgeglichen werden. Michelle und Barack Obama hatten die Mission, die Mitglieder stimmungsmäßig in die glorreichen Zeiten zu schaukeln. Die Links-Ikone Bernie Sanders hatte den Auftrag, insbesondere seine jugendlichen Anhänger für die Wahl zu mobilisieren. Der Enthusiasmus wurde allerdings coronabedingt heruntergedimmt: Statt Massenveranstaltungen gab es viele Video-Ansprachen.
Eines von Bidens wenigen konkreten Vorhaben ist ein Steuererhöhungs-Paket, das rund drei Billionen Dollar in zehn Jahren einspielen soll. So soll der Spitzensteuersatz von 37 auf knapp 40 Prozent angehoben werden.
Ob das Bidens Wirtschaftsprofil in den Augen der Amerikaner stärkt, darf allerdings bezweifelt werden. Eine knappe Mehrheit von 47 Prozent glaubt immer noch, dass Trump über eine höhere ökonomische Kompetenz verfüge als sein demokratischer Konkurrent, der auf 45 Prozent kommt. Bei den US-Bürgern hat die Wirtschaft den größten Stellenwert, noch vor der Pandemie. Dies ist umso bemerkenswerter, als der Präsident die Corona-Krise desaströs managte, die Arbeitslosenrate immer noch zweistellig ist und die Konjunktur einen historischen Einbruch verzeichnet. Obwohl Biden in den Meinungsumfragen auf nationaler Ebene deutlich vor Trump liegt: Das Rennen ist noch lange nicht entschieden.