Der Lechweg führt auf rund 125 Kilometern durch eine der letzten Wildflusslandschaften Europas. Trotz der Länge lässt sich der Weitwanderweg in Vorarlberg gut bewältigen – auch für unerfahrene Wanderer.
Ein Steinbock steht hoch oben im Gebirge, dort wo der Lechweg seinen Anfang nimmt. Das Tier ist freilich nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Bronze. Die Statue weist dem Wanderer den Weg. Doch dem bietet sich, noch bevor er den Lechweg in Angriff nimmt, ein kleiner Extra-Ausflug an. Denn scheinbar zum Greifen nah liegt der Formarinsee vor ihm, im Hintergrund streben die steilen Felsen des über 2.700 Meter hohen Berges Rote Wand dem Himmel entgegen. Eine knappe Stunde dauert es, bis man zum See hinunter und wieder hinaufgelaufen ist. Als Anreiz für den Umweg mag dienen, dass der Formarinsee 2015 von den Zuschauern des ORF zum schönsten Ort Österreichs gewählt wurde.
Nach diesem kleinen Abstecher geht es nun aber wirklich los. Schmale Wege und Holzstege führen den Berg hinab, an dessen Flanken die Quellen des Formarin- und des Spullerbachs aus der Erde sprudeln, die sich schon bald zum Lech vereinen. Hier oben im Gebirge hüpft der junge Lech übermütig über Steine und Felsen, springt mutig einen kleinen Wasserfall hinab und schlängelt sich dann durch saftig grüne Bergwiesen hinab nach Lech. Dem Ort Lech wohlgemerkt, der den gleichen Namen führt wie der Fluss, der durch ihn hindurchfließt. Bei Skifahrern hat Lech am Arlberg einen guten Ruf, denn mit knapp 100 Liften und 350 Pistenkilometern gehört die 1.600-Seelen-Gemeinde zu den wichtigsten und lebhaftesten alpinen Zentren Österreichs. In der Wandersaison, die hier am Oberlauf des Lechs von Ende Juni bis Anfang Oktober dauert, geht es wesentlich ruhiger zu. Statt Party steht regionale Kultur auf dem Programm. Das „Huber-Hus", ein 400 Jahre altes Bauernhaus, ist heute ein Museum, in dem man ein wenig ins Leben seiner Vorbesitzer eintauchen kann.
Lech am Arlberg Hat guten Ruf bei Skifahrern
An der Dorfkirche mit ihrem 33 Meter hohen Turm vorbei, führt der Weg oberhalb des Lechtals weiter in Richtung Warth. Wer sich schwertut mit dem Abschiednehmen, der dreht sich besser nicht um. Denn der Panoramablick zurück auf Lech lässt, kaum hat man den Ort verlassen, schon Sehnsucht nach Wiederkehr aufkommen. Die nimmt Schritt für Schritt ein wenig ab, je näher der Wanderer Warth kommt. Denn da hat er ein festes Ziel vor Augen – die „Wälder Metzge" am Dorfeingang ist die am höchsten gelegene Sennerei und Metzgerei Vorarlbergs und der lokale Esstempel. Fleisch aus eigener Schlachtung und Käse aus der Milch glücklicher Kühe – die „Wälder Metzge" ist der richtige Ort für eine Pause oder Jause, wie die Österreicher sagen. Ein Leberkassemmerl und ein Almdudler und schon geht es weiter. Über eine kleine Hängebrücke, die, nein nicht über den Lech, sondern den Krumbach führt, wandert man weiter nach Gehren und Steeg und damit hinüber nach Tirol. Die alte Bundesstraße ist jetzt Teil des Lechwegs und führt Serpentine um Serpentine bergab. Kaum vorstellbar, dass sich bis zu Beginn der 1980er-Jahre der gesamte Verkehr hier hinauf- beziehungsweise hinunterquälte.
Nach Holzgau – das Dorf ist bekannt für seine Lüftlmalereien aus dem Spätbarock – steht eine kleine Mutprobe an. Auf einer 200 Meter langen Hängebrücke schwankt der Wanderer in 110 Meter Höhe über der Höhenbachschlucht. Und dann erreicht er bald schon Elbigenalp. Das ist der Hauptort des Tals. So als gebe es kein anderes, nennen die Lechtaler die knapp 900 Einwohner zählende Gemeinde einfach das „Duarf". Der Mutter von Bayernkönig Ludwig II., Königin Marie, hat es so gut gefallen, dass sie hier gern die Sommerfrische verlebt hat. Anna Stainer-Knittel ist im „Duarf" geboren. Unter diesem Namen kennen nur die wenigsten die durchaus begabte Porträt- und Blumenmalerin – als Geierwally dagegen wohl umso mehr. Die aufregenden Jugendjahre der späteren Malerin dienten der Schriftstellerin Wilhelmine von Hillern als Vorlage für den gleichnamigen Roman. Von Königin Marie und der Geierwally erzählt die Wunderkammer – eine Art modernes Heimatmuseum. Untergebracht ist es im ehemaligen Doktorhaus aus dem 18. Jahrhundert, an das sich ein moderner Anbau schmiegt. Altes und Neues harmoniert auch im Inneren. Der Maler, Lithograf und Brauchtumsforscher Johann Anton Falger, hat im 19. Jahrhundert eine beachtliche Sammlung an alten Trachten, Haushaltsgegenständen und Arbeitsgeräten zusammengetragen. Den Reiz der Wunderkammer macht aus, dass sie nicht nur Falgers Sammlung, sondern auch sein Wissen präsentiert. Dessen umfangreiche Aufzeichnungen über Lechtaler Bräuche, Sitten und Traditionen hat man ausgewertet und zeigt das Ergebnis in Texten, Zeichnungen und Videos. Wer nach dem Rundgang durch die Ausstellung noch Fragen hat, schaut am besten einen der vielen vom Museum produzierten Kurzfilme an, die von lokalen Persönlichkeiten und Ereignissen erzählen. Oder er geht nebenan in den Gasthof „Geierwally". Denn Guido Degasperi, der im Lechtaler Dialekt durch die Museumsfilme führt, ist dort der Wirt. Aus der Gaststube hat er sein eigenes kleines Heimatmuseum gemacht.
Wunderkammer zeigt Bräuche
Der Lechweg ist beachtliche 125 Kilometer lang. Trotzdem muss, wer hier unterwegs ist, kein Wanderprofi sein. Sogar Familien mit Kindern gehen die Strecke von Lech nach Füssen. Die Wege sind durchweg gut ausgebaut und ausgeschildert – ein kunstvoll geschwungenes „L" zeigt den Weg. Spürt man den ersten Anflug von Erschöpfung, ist das nächste Restaurant, der nächste Imbiss oder der nächste Laden nie weit, alle paar Kilometer durchquert der Weg ein Dorf. An Tagen, an denen man nicht in Form ist, kann der müde Wanderer deshalb schon auf halber Strecke seine Tour abbrechen und mit etwas Schummeln mit dem Bus zum Etappenziel weiterfahren. Oder er lässt nur das Gepäck befördern und wandert selbst ganz unbeschwert dem Ziel entgegen. Auf den meisten anderen Weitwanderwegen enden die Tagestouren an einer Hütte und im Schlafsaal. Der Lechweg hat mehr zu bieten – wer hier unterwegs ist, kann individuell entscheiden, wie er übernachten will: mit mehr oder weniger Luxus, im Hotel oder einer Pension. Sogar einige Campingplätze gibt’s entlang der Strecke.
Einer der Campingplätze liegt in Häselgehr, dem Nachbarort von Elbigenalp. In der Umgebung von Häselgehr sollten die Wanderer besonders vorsichtig sein, denn hier ist der Sage nach ein Drache unterwegs. Der sorgt dafür, dass der Doser Wasserfall jedes Jahr an St. Martin, dem 11. November, versiegt und an St. Georg, dem 23. April, neu einspringt. Warum der Wasserfall wirklich ein halbes Jahr Pause macht, ist bislang nicht geklärt. Wer weiß, vielleicht ist die Drachentheorie ja gar nicht so abwegig.
Hängebrücke ist ein Highlight
Allmählich ändert sich die Landschaft und mit ihr der Fluss. Das wilde und raue Alpine macht Platz für Sanfteres. Der Weg folgt nun weitgehend dem Ufer, der Fluss ist breiter geworden und hat sich hier und da in Nebenarme verlaufen. Schotterbänke glänzen in der Sonne, bilden den Vordergrund für das ein oder andere Picknick.
Aber auch auf den letzten Kilometern stehen noch ein paar Highlights auf dem Programm – die Burgruine Ehrenberg bei Reutte mit der „Highline 179", einer der längsten Hängebrücken der Welt, das Königsschloss Neuschwanstein und zum krönenden Abschluss der Lechfall und die Altstadt von Füssen.