Für die deutschen Schwimmer war 2020 ein verlorenes Sportjahr. Statt sich in offiziellen Rennen die Wettkampfhärte für Olympia zu holen, können die meisten Athleten nur im Training Kacheln zählen.
Stolz posiert Florian Wellbrock am Beckenrand zwischen zwei Trainingskollegen, die beide einen Daumen nach oben recken. „22 Tage – 42 Sessions – 321,5 km" steht neben dem Bild auf Wellbrocks Instagram-Account geschrieben. In der Tat eine beeindruckende Serie von Deutschlands Vorschwimmer, das Problem ist nur: Kein einziger Kilometer davon wurde in einem Wettkampf absolviert.
Die deutschen Schwimmer sind von Corona besonders gebeutelt. Eigentlich wollten sie Ende Oktober nach Monaten wieder auftauchen, doch die nationalen Meisterschaften in Berlin wurden aufgrund der deutlich gestiegenen Fallzahlen abgesagt. Doppel-Weltmeister Wellbrock zeigte aber Verständnis für die Entscheidung. „Angesichts der aktuellen Unsicherheiten ist mir Vorsicht definitiv lieber als Nachsicht", sagte der 23-Jährige, denn „eine Ansteckung könnte mehr kosten als meinen Olympia-Traum". Wellbrock spricht etwas an, was in der Öffentlichkeit kaum thematisiert wird: Eine Covid-19-Erkrankung kann auch für austrainierte Leistungssportler das Ende aller Medaillenträume bedeuten. „Niemand weiß bislang genau, welchen Einfluss das auf die künftige Leistungsfähigkeit hat", sagte Wellbrock. „Wenn die Lunge dadurch künftig nur ein Prozent weniger leistet, gefährdet das die Karriere."
„Mir ist Vorsicht lieber als Nachsicht"
Diese Befürchtungen hegen auch die Verantwortlichen im Deutschen Schwimm-Verband (DSV). Deswegen wurden nicht nur die Deutschen Meisterschaften abgesagt, sondern auch eine eindringliche Warnung für einen Start bei der parallel abgehaltenen Profiliga ISL ausgesprochen. Das sechswöchige Event findet ausgerechnet im Corona-Hotspot Budapest statt, was dem DSV trotz eines umfangreichen Hygienekonzepts mächtig Bauchschmerzen bereitet. „Die ISL stellt ein nicht kalkulierbares Risiko dar und sollte aus medizinischer Sicht nicht durchgeführt werden", ließ der DSV verlauten. Der Verband warnte seine Athleten, die Gefahr der Ansteckung nicht auf die leichte Schulter zu nehmen: „Schädigungen bei einer Infektion mit Sars-CoV-2 können bereits die Sportfähigkeit stark einschränken und ein vorzeitiges Ende der Karriere bedeuten." Acht deutsche Schwimmer nahmen das Risiko dennoch in Kauf und starteten beim lukrativen Wettbewerb, der im Premierenjahr 2019 ein Preisgeld in Höhe von rund fünf Millionen US-Dollar an die Athleten ausgeschüttet hatte. Einer von ihnen ist Ex-Weltmeister Marco Koch, der die „enormen Sicherheitsvorkehrungen" in Budapest lobt und das Leben in der ISL-„Blase" für sicherer hält als das in Deutschland: „Die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich zu Hause beim Einkaufen anstecke ist glaube ich höher." In der Tat wurden positive Corona-Tests während der ISL-Wettkämpfe zunächst nicht publik, dafür aber im Vorfeld: Die italienische Freistil-Ikone Federica Pellegrini, Peking-Olympiasiegerin Femke Heemskerk (Niederlande) und Ungarns junger Schmetterling-Weltrekordler Kristof Milak durften zunächst nicht nach Budapest reisen, weil mindestens einer der zwei obligatorischen Tests positiv war. Pellegrini klagte über starke Schmerzen, Milak berichtete von Fieber, Schwäche und Gewichtsverlust.
Koch und sieben andere deutsche Schwimmer hielt das nicht von einer Anreise ab. Für sie waren das Startgeld und die Aussicht auf Wettkämpfe zu verlockend. Rückenspezialist Christian Diener zeigte sich dabei in prächtiger Frühform. Er knackte über 50 Meter in 22,76 Sekunden den elf Jahre alten deutschen Rekord von Ex-Weltmeister Thomas Rupprath und bescherte seinem Team London Roar reichlich Punkte für die Gesamtwertung. „Was für ein geiler Start!", schrieb der Olympia-Siebte hinterher auf Instagram.
Die ISL lockt mit hohen Preisgeldern
Bei der International Swimming League ISL handelt es sich um einen Wettbewerb, der vom ukrainischen Unternehmer und Milliardär Konstantin Gregorischin ins Leben gerufen worden war und der von zahlreichen Topstars der Szene unterstützt wird. Die ISL greift damit die Monopolstellung des Weltverbandes Fina an und lockt mit hohen Preisgeldern und dem Versprechen, dass Athleten bei der Durchführung deutlich mehr Mitsprache eingeräumt wird. Olympiasieger Adam Peaty ist einer der größten Fina-Kritiker und ISL-Unterstützer, sein Start in Budapest war daher für ihn selbstverständlich. Der Topstar von Team London Roar, dem neben Diener auch der deutsche Sprinter Marius Kusch angehört, spürt gerade in Zeiten der Pandemie eine große Verantwortung für Athleten, die nicht wie er von Preisgeldern und Sponsorenverträgen leben können. „Ich werde mich immer daran erinnern", sagte der Brite, „wie es ist, wenn man sich als Athlet das Benzin nicht mehr leisten kann." Für ihr Geld müssen die ISL-Starter in Budapest fast im Akkord arbeiten. In den ersten 31 Tagen standen in der Duna-Arena zehn Wettkämpfe auf dem Programm. Die fünf nordamerikanischen und fünf internationalen Mannschaften bilden eine Vorrundengruppe, jeder trat gegen jeden an. Ins Halbfinale zogen die acht besten Teams ein. Das Finale der Top Vier findet am 21. und 22. November statt.
Der deutsche Verband hofft, dass seine acht Athleten aus Ungarn, wo die rechtsnationale Regierung zwischenzeitlich den Notstand ausgerufen hatte, gesund zurückkehren. Für DSV-Leistungssportdirektor Thomas Kurschilgen war die Absage der DM aufgrund der „rasant steigenden Infektionszahlen", den damit verbundenen Unsicherheiten und „den eindringlichen Appellen der Bundesregierung" alternativlos. Auch Ausnahmeschwimmer Wellbrock meinte: „Dann erst mal lieber nur Wettkämpfe im kleineren Rahmen an den Bundesstützpunkten." Dort dürfen die Kaderathleten dank einer Ausnahmegenehmigung weiter trainieren, während die Schwimmhallen für die Normalverbraucher im November geschlossen sind. Doch wann die nächsten offiziellen Wettkämpfe in Deutschland stattfinden, wie genau die Olympiaqualifikation durchgezogen wird – alles offen. Für Athleten, die noch kein Tokio-Ticket in der Tasche haben, ist das eine höchst unbefriedigende Situation. Die frühere Staffel-Europameisterin Alexandra Wenk zum Beispiel sprang zuletzt im März in ein Wettkampfbecken, die Münchnerin gibt zu: „Da fällt man motivationsmäßig in ein Loch."
Zumindest auf Funktionärsebene kann der DSV nun Fakten schaffen. Am 21. November soll endlich wieder ein Präsident oder eine Präsidentin gewählt werden, nachdem der Posten seit dem Rücktritt von Gabi Dörries vor knapp zwei Jahren vakant ist. Beste Chancen werden dem aktuellen Präsidenten des Badischen Schwimm-Verbandes Marco Troll eingeräumt, der seine Kandidatur bereits öffentlich gemacht hatte.