Seit Anfang November beherrscht die Impfstoff-Diskussion Deutschland. Mit der Erfolgsmeldung aus Mainz ist die Frage der Verteilung konkret geworden. Pläne zu „Priorisierungen" nehmen Gestalt an. Die Hoffnung auf eine „neue Normalität" bringt neue Fragen.
Bundesgesundheitsminister Spahn ist ein Mann der Tat und der schönen Fotos. Mitte Oktober tauchte er mit großem Gefolge in der Berliner Charité auf und ließ sich „öffentlich" gegen Grippe impfen. Anderthalb Stunden später saß er dann in der Bundespressekonferenz und hielt stolz seinen Impfpass in die Kameras. Eigentlich war dies der Starttermin für die alljährliche Kampagne zur Grippeimpfung, doch in Corona-Zeiten war auch dieser Termin mit Symbolik überfrachtet. Denn Deutschland wartet keineswegs auf einen Grippe-Impfstoff, sondern auf den Corona-Impfstoff. Spahn nannte bereits Mitte Oktober die Rahmen-Daten für das Covid-Präparat. Auch die Dosis gegen Corona-Infektionen wird um die zehn Euro kosten, ähnlich wie beim Grippe-Präparat. Der Staat wird die Kosten für die flächendeckende Covid-Vollimmunisierung übernehmen. Drei Tage nach dem Charité-Termin musste der Bundesgesundheitsminister übrigens dann selbst in Quarantäne, er wurde positiv auf Corona getestet. Dass er sich das Virus in Berlins Vorzeigeklinik eingefangen haben könnte, gilt als wahrscheinlich.
Einige Tage nach dem Spahn-Auftritt meldete sich dann die Kanzlerin zu Wort. Auch sie stellte den Corona-Impfstoff in Aussicht und versprach, es werde keine Impfpflicht geben, jeder kann selbst entscheiden. Ende Oktober ging diese Aussage noch unter, vermutlich auch, weil noch überhaupt kein greifbarer Termin für den Impfstoff von den Forschenden genannt wurde. Doch schon damals stellte die Kanzlerin klar, dass für sie Corona erst überwunden ist, wenn 60 bis 70 Prozent der Deutschen „immunisiert" sind. Ob nun durch Impfung oder als genesende Erkrankte. Klar ist, dass die von der Kanzlerin geforderte Immunisierung in dieser Größenordnung durch Erkrankung Jahre dauern würde, also kann man diese Zahl nur durch Impfen erreichen. Und Angela Merkel stellte wiederholt klar, erst wenn diese 60 bis 70 Prozent erreicht sind, könnten alle Einschränkungen durch Corona-Maßnahmen wieder zurückgenommen werden.
Logistik und Priorisierung
Seit Montag, 9. November, hat die ganze Impfdebatte eine völlig neue Dynamik entwickelt. Es war der Montag, an dem die Unternehmen Pfizer und Biontech mit viel Brimborium verkündeten, dass „ihr Covid-19-Impfstoffkandidat BNT162b2 Wirksamkeit im Schutz vor Covid-19 in Probanden ohne nachweislich vorangegangene Sars-CoV-2-Infektion" zeige. Auf Deutsch: Auch in der dritten Testphase des Impfstoffes war man zu 90 Prozent erfolgreich. Bei dem Impfstoff handelt es sich nicht mehr um einen biologischen Impfstoff, der den Körper zur natürlichen Gegenreaktion animiert, sondern um einen genetischen, der die körpereigene DNA verändert und damit gegen Corona immun macht, beziehungsweise machen soll. Das Verfahren zur Zulassung dieses Stoffes läuft nun in den USA und Europa. Zwar weiß noch niemand, wann dieser Impfstoff verfügbar ist, trotzdem hat die EU schon mal 300 Millionen Dosen geordert, Deutschland bekäme davon nach dem Verteilschlüssel gemäß Bevölkerungszahl etwa 56 Millionen. Insgesamt soll sich Deutschland durch eigene Verträge 100 Millionen Dosen gesichert haben.
Da nicht die gesamte Zahl sofort geliefert wird und nach derzeitigem Stand eine Doppelimpfung notwendig ist, kommt das neue Zauberwort „Priorisierung" in die Diskussion, also ein Plan, wer zuerst und wer erst später in Frage kommt. Logischerweise werden als erstes medizinisches und Pflegepersonal geimpft, dazu die Hochrisikogruppen mit Vorerkrankungen, also vor allem Menschen über 60 Jahre. Ist der Impfstoff tatsächlich bereits ab Anfang Januar verfügbar, könnte Deutschland im Juli/August kommenden Jahres durchgeimpft sein. Soweit der Plan, auf dem alle Hoffnungen beruhen, der aber keineswegs unumstritten ist.
Jedenfalls stellt eine derart umfangreiche Impfaktion allein schon eine logistische Herausforderung dar, die über Hausarztpraxen aus einer Reihe von Gründen nicht zu bewältigen ist.
Bundesweit werden deshalb 60 Impfzentren eingerichtet, vorzugweise in Gebäuden der Landes- oder Bundespolizeien, damit der Anfangs knappe Impfstoff auch ordentlich geschützt werden kann. Außerdem benötigt man spezielle Aufbewahrungsbehälter, da der Impfstoff zwischen Minus 60 und 80 Grad gelagert werden muss. Spediteure mit Kühltransportern können sich also schon mal auf ein schönes Geschäft mit der hochsensiblen Impffracht freuen. Der Impfstoff muss ja schließlich verteilt werden. Auch wenn die Logistik steht und funktioniert, die Impfdosen reibungslos produziert und ausgeliefert werden, ausreichend Personal für die Impfungen bereit steht, heißt das alles noch nicht, dass Deutschland dann im kommenden Sommer in der Nach-Corona-Zeit tatsächlich angekommen ist.
Impfpflicht ist derzeit noch kein Thema
Der Faktor Mensch könnte zum Problem werden. Schon bei der Grippe-impfung zeigt sich, dass die Bevölkerung hierzulande was Impfen angeht extrem vorsichtig und eher zurückhaltend ist. In der Grippe-Saison 2018/19 wurden 21 Millionen Dosen geordert, aber nur 14,6 Millionen Menschen ließen sich überhaupt impfen. Und das war noch ein ziemlich herausragender Wert. Im Schnitt der letzten 15 Jahre ließ sich nicht mal jeder Zehnte gegen Grippe impfen, jedes Jahr mussten Millionen von Chargen weggeworfen werden. Bei Corona könnte nun ähnliches drohen, wie der jüngste Deutschlandtrend zeigt. Nicht nur Bundeskanzlerin Merkel, sondern auch Gesundheitsminister Spahn betonen geradezu gebetsmühlenartig: „Es gibt keine Impfpflicht." Es wäre auch schwer vorstellbar, wie die durchzusetzen wäre, ganz zu schweigen von den zu erwartenden Widerständen. Aber wenn sich nicht eine ausreichende Zahl Menschen impfen lässt, ist der notwendige Erfolg gefährdet, das ganze Projekt „60 bis 70-prozentige Immunität" würde scheitern, befürchtet auch die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Alena Buyx. Längst wird in den politischen Gremien, der ständigen Impfkommission, dem Wissenschafts- und eben dem Ethikrat über Impf-Verpflichtungen gesprochen. „Also das ist eine sehr kontroverse Diskussion, eine sehr kontroverse Debatte und ich hoffe sehr darauf, dass wir solche Fragen überhaupt nicht stellen müssen. Deswegen sollten wir solche Debatten erst dann führen, wenn wir absehen können, so wie wir es jetzt machen, funktioniert es nicht", so Buyx (siehe Interview). Die Vorsitzende des Ethikrates steht mit dieser Meinung nicht allein, es gilt das Prinzip Hoffnung, dass sich letztlich doch der überwiegende Teil der Bevölkerung impfen lässt. Aber selbst aus Pflege- und Altenheimen kommen schon erste Hinweise, dass sich Teile der Bewohner nicht impfen lassen wollen, weil sie Angst vor den Nebenwirkungen des genetischen Impfstoffes haben. Wie soll die Heimleitung mit diesen Bewohnern umgehen? Kommen die dann alle auf eine „Quarantäne-Etage"? Und es ist nicht nur eine ethische, sondern auch eine arbeitsrechtliche Frage, wenn sich Mitarbeiter in der Klinik, dem Pflege- oder Altenheim nicht impfen lassen wollen. Dürfen die dann noch auf der Station arbeiten?
Der Präsident des Deutschen Pflegerates, Franz Wagner, winkt auf FORUM-Nachfrage freundlich ab und will jetzt erst mal abwarten, bis es den Covid-Impfstoff überhaupt gibt. Auch Wagner hofft auf die Vernunft der Pflegenden. Angenommen, der Impfstoff ist tatsächlich ab Januar verfügbar, wird sich spätestens im Frühsommer kommenden Jahres diese Diskussion auf alle Lebensbereiche ausbreiten. Tanzkurs, Sportstudio, Theater, Schwimmbad, Oper, Kino und natürlich Gastronomie. Sind die Gäste nachweislich alle gegen Corona geimpft, können die Betreiber auch wieder alle Plätze besetzen und kommen so auf einen Umsatz, von dem sie auch wieder leben können. Da wäre es nur konsequent, den Impfpass mit Covid-Stempel als Eintrittskarte zu verlangen, um sicherzugehen, dass die akute Corona-Gefahr zumindest erheblich minimiert wurde. Der Ethikrat hat da allerdings bereits Bedenken angemeldet.