Zwei Spitzenpolitiker Europas halten fast gleichzeitig „Berliner Reden" über die Zukunft Europas – dieses Jahr per Video. Sie zeigen, wie unterschiedlich der Kontinent tickt.
Die zweite Novemberwoche war eine echte Europa-Woche. Die Verhandlungsführer des Europäischen Parlaments, der EU-Kommission und des Ministerrats haben sich endlich auf den EU-Haushalt für die kommenden sieben Jahre in Höhe von 1.074 Milliarden Euro geeinigt. Damit hängt eine Einigung über das Corona-Wiederaufbauprogramm „Next Generation EU" zusammen. Ein Billionen-Beschluss.
Das „Wiederaufbauprogramm" soll durch neue EU-Anleihen finanziert werden: Dabei nimmt die EU-Kommission an der Wall Street und anderswo Schulden auf und steht für deren Rückzahlung in 20 oder 30 Jahren. Damit hat sie schon im Oktober begonnen. Das Geld bekommen Länder, die von Corona besonders getroffen sind, also insbesondere Italien, Spanien und Frankreich, um es zu investieren oder etwa als Kurzarbeitergeld auszuzahlen. Die Bundesregierung hat den jahrzehntelangen Widerstand gegen eine gemeinsame EU-Verschuldung endgültig aufgegeben.
„Die Seele des Europaprojekts neu entdecken"
Für die zu Beginn dieser zweiten Novemberwoche gehaltene „Europa-Rede" lag das Thema daher auf der Hand. Dieses Jahr durfte der Präsident des EU-Parlaments, der Italiener David Sassoli sie halten. Eigentlich hätte er dafür in Berlin sein sollen, aber da die Veranstaltung sowieso nur ortlos-digital stattfand, wurde Sassoli einfach für eine halbe Stunde per Video zugeschaltet. Sassoli findet trotz Krise viele positive Worte: Noch im März sei es ein Tabu gewesen, von europäischen Anleihen zu sprechen, nun dürfte man stolz sein auf die an der Wall Street wehenden Fahnen Europas. Europa sei in der Corona-Krise in Solidarität vereint, ohnehin wachse Europa an seinen Krisen, wie EU-Gründervater Jean Monnet schon sagte. Es gebe dennoch zu viel antieuropäische Stimmung, zu viel Nationalismus. Aber die großen Krisen, also Finanz-, Migrations- und Corona-Krise ließen sich eben nicht alleine, sondern nur gemeinsam lösen. Die gemeinsamen Schulden seien daher ein „Synonym für Solidarität" zwischen den Staaten. Man sollte Vertrauen in die europäische Zukunft haben, und sogar ein „neuer Humanismus" sei zu erwarten. Als Motto ließe sich sagen: Es gehe darum, „die Seele des Europaprojekts neu zu entdecken."
So weit die eine Europa-Rede 2020. David Sassoli, im früheren Leben Fernsehjournalist des öffentlichen italienischen Rundfunks RAI, gehört der Partito Democratico an, also den italienischen Sozialdemokraten, die in Italien mit an der Regierung sind.
Politik-Laien kann es schon mal passieren, dass sie die Berliner „Europa-Rede" mit der Berliner „Humboldt-Rede zu Europa" verwechseln. Was in diesem Jahr jedoch besonders bedauerlich gewesen wäre, angesichts der mehr als nur in Nuancen hörbaren Unterschiede. Beide Reden haben Tradition, sind jährlich wiederkehrende Ereignisse. So mancher prominente Europäer ließ es sich nicht nehmen, in beiden Rede-Reihen aufzutreten: Martin Schulz etwa, oder Jean-Claude Juncker, beides über jeden Zweifel erhabene Europäer. Eine ganze Reihe von Stiftungen ist stolz darauf, die Reden zu unterstützen. Die Stiftung Mercator hält gleich beide Veranstaltungen parallel für förderfähig.
Die andere Rede also, das ist die Humboldt-Rede zu Europa, deren Tradition der einstige populäre Außenminister Joschka Fischer im Jahr 2000 begründet hat und die normalerweise in der Humboldt-Universität gehalten wird. Fischer hatte übrigens schon damals gefordert, der EU mehr Kompetenzen zu geben, im Sinne eines Europa-Föderalismus.
Dieses Jahr hielt diese Humboldt-Rede die estnische Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid. Sie sprach per Video von ihrem Amtszimmer aus, sie befinde sich ohnehin in „splendid self-isolation" wegen Kontakt zu einem Corona-Fall.
„Vertrauen nur bei digitaler Identität"
Ihre Rede nun hätte kaum unterschiedlicher ausfallen können als die tags zuvor gehaltene des Italieners. „Jede Nation hat das Recht, über ihre Zukunft zu entscheiden", sagte sie, und jeder mit nur etwas Geschichtskenntnissen merkte, sie meint die Geschichte ihres Landes mit den Erfahrungen der deutschen und sowjetischen Okkupation. Dann ging es los mit einer feurigen Werbekampagne für die „digitale ID", einer digitalen Identifikationsnummer, auf die der kleine baltische Staat sehr stolz ist. „Was ist die digitale ID? Sie ist ein Ausweis, um das Internet zu nutzen." Da sie absolut sicher nur vom jeweiligen Inhaber genutzt werden kann, ermögliche sie, alle offiziellen Dienstleistungen online zu erledigen. Sie ermögliche es Estland, ein hohes Niveau an „E-Government", also elektronischer Verwaltung, zu erreichen. In Deutschland gebe es zwar auch die digitale ID, allerdings kaum Service-Angebote, für die man sie einsetzen kann. Habe jemand Zweifel an der Sicherheit? Die digitale ID sei genauso sicher wie ein Bankkonto. So wie man der Bank vertraue, könne man dem Staat vertrauen, so die Präsidentin.
Die persönlichen Daten seien absolut sicher und geschützt, mehr noch als in der alten analogen Welt, da jeder Blick in eine Datenbank einen digitalen „Fingerabdruck" hinterlasse. Wer sich unbefugt Zugang zu privaten Daten verschaffe, wird in Estland automatisch strafrechtlich verfolgt. In Estland sei das Internet auch deshalb so populär, weil jeder der Identität eines jeden, der im Internet unterwegs ist, vertrauen könne. Das sei so wie in der analogen Welt: „Wir vertrauen dem Gegenüber ja auch nicht, wenn es sich nicht identifizieren kann."
Diese digitale ID ermögliche auch ganz neue Geschäftsmöglichkeiten. „30 Prozent aller Jobs sind ortsunabhängig." So eröffne sich ein globaler digitaler Handelsraum für alle, die etwas produzieren und verkaufen können. „Handwerker können ihre Produkte damit weltweit verkaufen." Auch einfache Jobs, auch Menschen mit Behinderungen, könnten so vom Internet und einer globalen Nachfrage profitieren.
Das estnische Modell sei auch gut für ganz Europa: „Kollektiv hat die EU den best-entwickelten Raum für E-Government", so Kaljulaid. Die EU sei da sogar den USA voraus, die zwar die besten Technologien entwickelten, aber nicht den sicheren einheitlichen rechtlichen Rahmen dafür anbieten könnten.
So entwickelt die estnische Präsidentin in der kurzen Rede eine Vision eines radikal individualistischen Europas, das jedem Einzelnen gleiche Chancen bietet, wenn seine Identität eindeutig ist und daher das Vertrauen da ist für Geschäfte zwischen allen Individuen in Europa – und weltweit.
Die beiden Modelle, die die Estin und der Italiener auf ihren jeweiligen „Berliner Reden" im November 2020 anboten – in Form und Inhalt – könnten konträrer kaum sein. Zwei Lehrstunden in europäischer Vielfalt.