Die Entwicklung junger Spieler ist schwer einzuschätzen. Verletzungen, die Schule nebenher, das Privatleben, richtige oder falsche Karriere-Entscheidungen – all das kann den Weg beeinflussen. Wir wagen trotzdem eine Spielerei: Wie könnte der deutsche Kader bei der EM 2024 im eigenen Land aussehen?
Man glaubt es ja kaum, weil es erst das drittnächste Turnier sein wird. Aber es sind nur noch etwa dreieinhalb Jahre bis zur Fußball-EM 2024 in Deutschland. Es wird die vierte große Endrunde in Deutschland sein nach der WM 1974, als das DFB-Team den Titel gewann, sowie der EM 1988 und der WM 2006. Bei den beiden letzten Turnieren war jeweils im Halbfinale Schluss. Das wird aber auch 2024 das absolute Mindestziel bei der Euro sein.
Wie wichtig ein starker Gastgeber für das Turnier ist, erlebte Deutschland bei der WM 2006, als im Vorfeld niemand an ein „Sommermärchen" dachte. Doch Kaiserwetter und eine sympathisch und frisch aufspielende deutsche Mannschaft sorgten für ein unvergessliches Erlebnis für das ganze Land, das auch durch die Affäre um ungeklärte Zahlungen bei der Vergabe in der Erinnerung kaum getrübt wurde.
Deshalb ist Philipp Lahm offenbar auch etwas angespannt. Der 37-Jährige, vor sechs Jahren Kapitän beim WM-Titel in Brasilien, ist Turnierdirektor der EM 2024. Und eine starke deutsche Mannschaft liegt ihm natürlich sehr am Herzen. Weswegen ihm die jüngste Entwicklung mit dem 0:6 in Spanien als Krönung auch Sorge bereitete. Und deshalb übte Lahm via „Sport-Bild" überraschend unverhohlen Kritik an seinem langjährigen Bundestrainer und Vertrauten Löw. „Ich habe schon nach der WM 2018 gesagt, dass Jogi Löw seine Ansprache an diese Generation anpassen muss", schrieb Lahm in einem Gastbeitrag. Löw müsse „dafür sorgen, dass bei den Spielern, denen er vertraut, endlich der Funke überspringt." Die jungen Spieler bräuchten „Führung und Motivation. Sie müssen wissen, dass sie Verantwortung tragen. Sie brauchen die richtige Ansprache."
„Junge Spieler brauchen Führung"
Dass Löw diese Ansprache über die EM 2021 hinaus halten wird, halten inzwischen die wenigsten für realistisch. Dass er der Bundestrainer bei der Euro 2024 sein wird, demnach noch weniger. Das macht es noch mehr zu einer Spielerei, darüber spekulieren zu wollen, wer bei der EM 2024 im deutschen Kader stehen wird. Mit Blick auf die WM 2006 schaute sich der Filmemacher Aljoscha Pause einst Thomas Broich als kommenden Star aus und begleitete ihn eng. Als die WM 2006 begann, wechselte Broich gerade nach Köln in die Zweite Liga. Pauses filmisches Porträt „Tom Meets Zizou" ist bis heute eine der besten Fußball-Dokus, weil sie das Porträt eines sich in einem kuriosen Geschäft selbst im Weg stehenden Sympathen zeigte. Doch die Schlagzeilen schrieben am Ende die Jungspunde Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski.
Interessant ist diese Spielerei aber allemal. Und wir können uns an einigen Grundsätzen entlanghangeln. Beim WM-Triumph 2014 war der Jüngste im Kader 20 (Matthias Ginter), der Älteste außer den Torhütern 30 (Philipp Lahm). Beim WM-Desaster war der Jüngste 22 (Julian Brandt), der Älteste 32 (Mario Gomez). Schlagen wir die Spanne also von 20 bis 32 heißt das: Unsere potenziellen WM-Teilnehmer sind heute zwischen 17 und 29. Das macht das Kandidaten-Feld überschaubar und lässt es fast auf die Bundesliga beschränken. Gehen wir die Positionen einmal durch (das Alter in der Klammer ist – sofern nicht anders vermerkt – auf den EM-Start im Juni 2024 gerechnet):
TOR: Manuel Neuer wird beim Start der Euro in Deutschland 38 Jahre alt sein. Das ist selbst für einen Torhüter ein fast schon biblisches Alter. Ausgeschlossen ist seine Teilnahme aber nicht. Dino Zoff wurde 1982 mit Italien als 40 Jahre alter Stammtorhüter Weltmeister. Neuer will noch viele Jahre spielen. Sollte es für die EM nicht mehr reichen, sollte spätestens dann die Zeit von Barcelona-Keeper Marc-André ter Stegen (dann 32) schlagen. Und dahinter? Die derzeit schon berücksichtigten Bernd Leno (32) und Kevin Trapp (34) könnten noch dabei sein. Doch dahinter wird es dünn. Der aktuelle U21-Nationaltorhüter Lennart Grill (25) ist in Leverkusen nur die Nummer drei, sein Vorgänger Florian Müller (26) setzte sich in Mainz nicht durch.
Hinter Marc-André ter Stegen klafft eine Lücke
AUßENVERTEIDIGER: Seit Jahren ist es die Position, über die man am einfachsten ins Team kommen kann. An Jonas Hector hat jahrelang niemand gedacht, viele weitere wären auf anderen Positionen nie Nationalspieler geworden. Für speziell ausgebildete Youngster also immer noch eine große Chance für die Überholspur. Und von den Aktuellen? Benjamin Henrichs, Thilo Kehrer (beide 27), Lukas Klostermann (28), Robin Gosens (29), Philipp Max (30) oder Marcel Halstenberg (31) wären alle noch im spielfähigen Alter. Aber schaffen sie es, mehr als Notlösungen zu sein? Als Alternative bietet sich rechts aktuell der Neu-Wolfsburger Ridle Baku (26) an, links Kölns Noah Katterbach (23). Vielleicht der auch über Umwege nun in Dortmund angekommene Felix Passlack (26).
INNENVERTEIDIGER: Mats Hummels und Jérôme Boateng sind bei der EM beide 35 und wohl selbst unter einem Löw-Nachfolger kein Thema mehr. Von den aktuell Berücksichtigten wären fast alle in einem guten Alter: Felix Uduokhai (26), Robin Koch (27), Jonathan Tah, Niklas Süle (beide 28), Matthias Ginter (30), Antonio Rüdiger (31). Und dahinter? Aus der U21 bieten sich am ehesten der Bochumer Maxim Leitsch (26) und der von den Bayern an Darmstadt ausgeliehene Lars Lukas Mai (24) an. Sie müssen sich aber erst mal in der Bundesliga beweisen.
DEFENSIVES MITTELFELD: Toni Kroos wird bei der Heim-EM 34 sein, zwischen den Zeilen lässt sich gut heraushören, dass der Real-Star dann nicht mehr dabei sein wird. Auch für Ilkay Gündogan (33) dürfte es eng werden. Die Platzhirsche dürften nach heutigem Ermessen Joshua Kimmich und Leon Goretzka mit dann jeweils 29 sein. Auf der Überholspur ist der Gladbacher Florian Neuhaus (27), der im kommenden Jahr zum FC Bayern wechseln könnte. Wie er als Achter könnte Leverkusens Florian Wirtz (21) zum Einsatz kommen, der als jüngster Bundesliga-Torschütze und jüngster deutscher U21-Nationalspieler schon Geschichte schrieb. Zudem gibt es noch leise Hoffnung, dass das in Stuttgart geborene Bayern-Ausnahmetalent Jamal Musiala (21) sich doch für Deutschland und nicht für England entscheidet.
OFFENSIVES MITTELFELD: In der offensiven Dreier-Reihe dürfte das Gedränge am Größten sein, und es könnte viele Überraschungen geben. Keine wäre es, wenn Kai Havertz (25) bei der Heim-EM ein Kopf und Star der deutschen Mannschaft wäre. Julian Brandt, Leroy Sané und Serge Gnabry wären beim EM-Start auch alle erst 28 und im besten Fußballer-Alter. Ausnahme-Talente glauben auf diesen Positionen aber viele in ihren Reihen. So Dortmund mit Rechtsaußen Ansgar Knauff, der kürzlich mit 18 zum Debüt in der Champions League kam. Köln mit dem zentral spielenden Justin Diehl, der aber erst 16 ist und sich erst mal in die Bundesliga durchkämpfen muss. Oder Jan Thielmann, der schon über 20 Bundesliga-Einsätze hat und kürzlich mit 18 sein erstes Bundesliga-Tor schoss. Mainz mit dem gern rechts spielenden Paul Nebel (21). Oder Leipzig mit dem zentral agierenden Joscha Wosz (21), Neffe der früheren „Zaubermaus" Dariusz Wosz. Julian Draxler (30) gilt als ewiges Versprechen, aber Löw-Liebling. Unter einem Nachfolger könnte er es schwer haben. Über Thomas Müller (34) und auch Marco Reus (35) wird dann wohl niemand mehr reden.
STURM: Deutschland war immer das Mittelstürmer-Land: Uwe Seeler, Gerd Müller, Karl-Heinz Rummenigge, Horst Hrubesch, Rudi Völler oder Jürgen Klinsmann stehen für diese Tradition, die es so kaum noch gibt. Timo Werner (28) ist bei der Euro in einem hervorragenden Alter und sammelt gerade bei Chelsea weitere Erfahrung. Aber er ist ungern alleiniger Mittelstürmer. Ähnliches gilt für den zuletzt häufig berücksichtigten Luca Waldschmidt (28). Schon lange als Talent gilt Mergim Berisha, der für Red Bull Salzburg gerade gut trifft, aber mit jetzt schon 22 noch nicht im echten Blickfeld ist. In Hoffenheim schwören sie auf den heute erst 18-Jährigen Maximilian Beier, der in der Europa League gegen Gent links beginnen durfte und prompt zweimal traf. Bremens Nick Woltemade (22), stolze 1,98 Meter groß, trauen viele auch eine gute Zukunft zu. Ebenso dem Mainzer Jonathan Burkardt (23). Und dann gibt es ja noch ihn: Youssoufa Moukoko, dessen Spielerlaubnis zum 16. Geburtstag ganz Dortmund sehnsüchtig erwartete, der die Bundesliga aber nicht gleich kurz und klein schoss. Löw bezeichnet ihn dennoch als „Granate".